Duell am Donnerstag: EU-Beitritt der Türkei?

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Soll die Türkei der Europäischen Union beitreten? Diese Frage spaltet die Gemüter, seit das Land am Bosporus im November 2011 offiziell den Status eines Beitrittskandidaten bekommen hat. Neue Brisanz bekommen die Beitrittsverhandlungen aktuell durch die Unruhen in der Türkei: Soll die EU wirklich ein Land aufnehmen, in dem die Regierung friedliche Demonstrationen gewaltsam niederschlagen lässt? Oder ist es nicht gerade die Pflicht der Staatengemeinschaft, die Türkei auf ihrem Weg zu mehr Demokratie und Menschenrechten zu unterstützen und den Beitritt voranzutreiben? Franziska Jünger und Timm Giesbers im Duell.

pro

Eigentlich wollte die EU in dieser Woche die Verhandlungen über den Beitritt der Türkei in die Staatengemeinschaft fortsetzen. Als Reaktion auf die neuesten Entwicklungen rund um die  Proteste und ihre gewaltsame Niederschlagung werden die Gespräche vertagt: genau das falsche Signal!

Jetzt erst Recht!

In der Türkei hat sich zum ersten Mal seit der Gründung der Republik im Jahr 1923 eine große Volksbewegung gebildet. Junge, gebildete Türken gehen auf die Straße, riskieren ihre Gesundheit und zum Teil sogar ihr Leben, um für etwas zu protestieren, was zu den Grundwerten Europas gehört: Freiheit und Demokratie. Die rebellischen Städter wollen die autoritäre Politik ihres Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan nicht länger widerstandslos hinnehmen, sich von ihm nichts mehr vorschreiben lassen.

Die Courage der Demonstranten, für ihre Meinungen und Überzeugungen offen einzustehen, muss man honorieren und darf sie gerade jetzt nicht alleine lassen. Daher ist es die Aufgabe der Europäischen Union, die Beitrittsverhandlungen fortzusetzen, um zu verhindern, dass dieses demokratische Aufbegehren im Keim erstickt wird.

Demokratie ist nicht umsonst zu übersetzen mit Volksherrschaft: Die EU – ein Verbund demokratischer Staaten – ist somit in der Pflicht, die türkische Bevölkerung in ihren demokratischen Forderungen zu unterstützen, und nicht nur dem größenwahnsinnigen Regierungschef Beachtung zu schenken, der sich durch eine Beitrittszusage in seinem Vorgehen bestätigt fühlen könnte.

Die Türkei ist kein wirtschaftliches Sorgenkind

Erdogan geht es bei den EU Beitritts-Verhandlungen im Gegensatz zu den Menschen, die seit Wochen gewaltlos demonstrieren, nicht um gemeinsame europäische Werte. Was für ihn zählt, ist das Bruttosozialprodukt, die wirtschaftliche Stärke seines Landes.

Auch wenn der Führungsstil Erdogans ohne Zweifel nichts mit der Achtung von Menschenrechten zu tun hat, so ist er doch in kein Despot im Stile eines Wladimir Putin. Während in Russland der Wohlstand nach Nähe zum Kreml verteilt ist, steht die Türkei auf einer wirtschaftlich soliden Basis, viele ausländische Investoren sorgen für einen florierenden Markt. Auch das hat den Menschen in der Türkei Selbstbewusstsein gegeben.

Sie protestieren nicht aus wirtschaftlicher Not heraus, sondern aus Sorge um ihr Land, das Erdogan und seine Partei AKP spalten: Auf der einen Seite die islamtreue Landbevölkerung, Erdogans Anhänger. Auf der anderen Seite der aufgeklärte, urbane Teil, der seinen Blick nach Brüssel richtet, Richtung Europa.

Vermittler im Nahen Osten

Eines darf dennoch nicht vergessen werden: Auch diese neue, moderne Generation besteht aus Muslimen. Muslime, die sich aber nicht vom Patriarchen Erdogan vorschreiben lassen wollen, wie sie ihren Glauben ausüben sollen. Die Türkei könnte durch die Integration in die EU gerade muslimischen Ländern im Nahen Osten ein Vorbild sein sowie eine wichtige Vermittlerrolle einnehmen.

In Deutschland leben knapp drei Millionen türkischstämmiger Menschen, die von einem Eintritt der Türkei in die EU profitieren würden. Das Stützen auf gleiche Werte und Ziele würde den Austausch fördern und die Integration erleichtern. Viele Deutschtürken, die mit der ersten Einwanderungswelle in den 60er Jahren nach Deutschland kamen, haben die Modernisierung und Verwestlichung ihres Heimatlandes nämlich gar nicht richtig mitbekommen und sind häufig konservativer als Türken in der heutigen Türkei.

Demokratie ist ein langer Prozess

Einwände gegen einen EU-Beitritt der Türkei, die eine grobe Missachtung der Menschenrechte und eine manipulierte Presse betreffen, sind natürlich berechtigt. Die Türkei hat so manche Baustelle, die den Weg nach Europa noch recht holprig macht. Aber nicht zuletzt unsere eigene deutsche Geschichte hat gezeigt: Demokratie ist ein Prozess, der nicht von heute auf morgen umgesetzt werden kann. Umso wichtiger ist es, dass die Türken Unterstützung erfahren.

Das Plädoyer Angela Merkels für eine „privilegierte Partnerschaft“ der Türkei mit der EU ist nicht Fisch, nicht Fleisch. Die Integration der Türkei in die EU muss rückhaltlos geschehen, nur so kann sich die junge Generation auch wirklich ernst genommen und willkommen fühlen. Bleibt diese Unterstützung aus, besteht das Risiko, dass sich die Türkei gesellschaftlich und politisch wieder vom Westen entfernt – ein zweites Syrien kann nun wirklich niemand  wollen.

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Der Umgang mit den Protesten durch die türkische Regierung zeigt eins: Die Türkei gehört nicht in die Europäische Union!

Demokratie wird missverstanden

Premier Erdogan und seine Anhänger haben das demokratische Prinzip von Rede und Gegenrede, von der Notwendigkeit einer Opposition, nicht verstanden. Die freie Meinungsäußerung ist schlicht konstituierend für die Demokratie. Demonstranten auf offener Straße niederzuknüppeln, Tränengas in die Reihen friedlich Protestierender zu werfen, macht deutlich, dass die Türkei innenpolitisch nicht so weit ist, in die Riege der EU-Länder aufgenommen zu werden.

Als in Frankreich Hundertausende durch die Straßen von Paris zogen, um die Homo-Ehe zu verdammen, hat Präsident Hollande nichts gegen sie unternommen, obwohl er für die Einführung war. Als in vielen Städten Spaniens die Jugend für ihre Zukunft auf die Straße ging, unternahm die spanische Regierung nichts. Auch hier richtete sich der Protest gegen die Regierung. Doch man hat verstanden, wie wichtig Protest für die Demokratie ist.

Erdogan steht nicht allein

Und dabei genießt Erdogan durchaus Rückhalt. Noch 2011 konnte er bei der Wahl einen Stimmenanteil von über 49% auf sich vereinen. Die Proteste starteten in den Großstädten, und hier ist es auch, wo sie ihre ideologische Heimat haben. Auf dem Land, vor allem im sehr rückständigen Osten der Türkei, hat Erdogan jedoch den vollen Rückhalt der Bevölkerung.

So treibt er seit Jahren die Spaltung seines Landes voran. Es beginnt ein Klassenkampf zwischen den Säkulären und den Islamtreuen. Mit der Verschärfung der Abtreibungsgesetze, dem Verbot von Alkoholkonsum in vielen öffentlichen Einrichtungen und der Durchsetzung einer islamtreueren Lebensweise driften die Lebenseinstellungen von EU-Bürgern und großen Teilen der türkischen Bevölkerung weiter auseinander.

In der Türkei herrschen keine europäischen Freiheiten

Für Europäer völlig unterverständlich, hat die Türkei keine freie Presse. Unzählige kritische Journalisten sind in Haft, die türkischen Medien berichteten nur zögerlich über die Proteste auf dem Taksim-Platz. Zurzeit belegt die Türkei auf dem Pressefreiheits-Ranking von Reporter ohne Grenzen Platz 154. Die Türkei steht damit auf einer Stufe mit Weißrussland, dem Land, von dem Kritiker sagen, es sei „die letzte Diktatur Europas“ und Birma/Myanmar, das erst 2011 aus einer jahrzehntelangen Militärdiktatur entkam.

Darüber hinaus kommen demokratische Reformen in der Türkei kaum voran. Obwohl für die weiteren Verhandlungen explizit von der EU gefordert, kümmert die Situation Erdogan kaum. Er sieht schlicht keine Notwendigkeit darin, sein Land dem demokratischen Prozess zu öffnen. Vielmehr betreibt er eine radikal populistische Politik.

Worum geht es im Kern?

Warum möchte die Türkei überhaupt EU-Mitglied werden? Klar ist doch, dass es niemandem um kulturellen Austausch geht, der schließlich mal ein Hauptgrund für den Aufbau der EU war. Vielmehr geht es den Regierungen in der EU und in Ankara um wirtschaftliche Kooperation. Die Türkei ist ein Boom-Land, die EU ein wichtiger Absatzmarkt. Es geht also um Geld. Dabei könnte man auch leichter an Finanzmittel kommen. Zum Beispiel durch eine europäisch-türkische Freihandelszone. Die zähen Beitrittsverhandlungen könnte man sich getrost sparen.

Die Türkei wäre kein europäisches Leichtgewicht

Vielmehr muss die EU deutlich kritischer bei der Auswahl ihrer Mitgliedsländer werden. Mit Kroatien wurde gerade erst ein weiterer Krisen-Kandidat in die Union aufgenommen. Es ist gut, eine Vision von einem geeinten Europa zu haben, aber dieser Vision darf man nicht die Vernunft unterzuordnen. Bei der Aufnahme der Türkei darf kein Fehler passieren. Mit über 74 Millionen Einwohnern wäre die Türkei auf einen Schlag das zweitbevölkerungsreichste Land der EU, hinter Deutschland. Mitsamt seinem wirtschaftlichen Gewicht könnte es den Kurs der Union entscheidend mitbestimmen. Wollen sich Frankreich und Deutschland demnächst von einem islam-konservativen Autokraten ihre Politik bestimmen lassen?

Außerdem schwelt der Konflikt mit Griechenland und Zypern weiter. Nicht auszudenken, was diese alte Feindschaft für Verhandlungen in Brüssel bedeuten könnte. Bei einer Verhärtung der Fronten wäre wohl Europa als Institution insgesamt gefährdet, schließlich funktioniert in Europa kaum etwas über die Köpfe der Mitgliedsländer hinweg.

Die Türkei ist und bleibt auf weiteres kein adäquater Kandidat für einen Platz in der Europäischen Union. Die EU hat einfach schon zu viele Problemkinder.

das-duell-feeder Foto: stockxchng/bizior, Montage: Steinborn/Schweigmann, Teaserfoto: Ilse Dunkel (ille) / pixelio.de

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