Der Sprint ins unsichtbare Ziel

„Faster“ steht auf dem mintgrünen T-Shirt, das Katrin Müller-Rottgardt trägt, während sie über die Tartan-Bahn des TV Wattenscheidt joggt. Und schneller ist sie wirklich. Die 35-Jährige mit dem blonden Zopf und der schwarzen Sonnenbrille hält den deutschen Rekord auf der 100-, 200- und 400-Meter-Strecke – unter den Blinden.

Katrin Müller-Rottgardt hat zwei Prozent Sehkraft, bei der Geburt waren es nur wenige Prozent mehr. Offiziell gilt das zwar als blind, aber die Sportlerin sieht Farben und Umrisse. Menschen ohne Sehbehinderung können sich das so vorstellen, als schauten sie durch eine vereiste Glasscheibe.

Ich weiß nicht wie die Welt für andere aussieht. Ich habe ja keinen Vergleich.

Wenn Katrin sprintet, erkennt sie weder ihre Konkurrentinnen noch die Ziellinie. Aber das übernimmt jemand anders für sie: Noel Fiener, ihr Guide. Mit ihm läuft sie auf Turnieren gemeinsam ins Ziel, jeder auf einer Bahn. Ihre Verbindung: ein Schnürsenkel. Der wird um jeweils ein Handgelenk der beiden geknotet, sodass sie fest verbunden sind. Wenn Katrin Müller-Rottgardt von der Laufbahn abkommt, übt Noel Fiener Druck mit dem Unterarm aus und gibt so Zeichen. Auch wenn die beiden die Hälfte der Strecke zurückgelegt haben, sagt er Bescheid. „100“ kommt dann zum Beispiel – der Hinweis für 100 zurückgelegte Meter.

Das System funktioniert: Bei den Paralympics 2016 in Rio holte Katrin Müller-Rottgardt Bronze, damals noch mit Guide Sebastian Fricke. Als die Sportlerin im Ziel war, war ihr nicht klar, welchen Platz sie belegt hatte. Das wusste sie erst, als ihr Sebastian sagte, was auf der Anzeigetafel stand. „Diese paar Sekunden, bis ich das wusste, dauerten vergleichsweise ewig.“

11,99 Sekunden brauchte Rottgardt für die 100-Meter-Strecke, persönliche Bestleistung. Das reichte für die erste paralympische Medaille. „Das war einfach unglaublich. Dafür habe ich die ganze Zeit trainiert“, fasst Katrin zusammen, und schwärmt von der außergewöhnlichen Stimmung in Rio. Auch ihr damaliger Guide Sebastian Fricke bekam eine Bronze-Medaille. „Ich habe hundertprozentiges Vertrauen in meinen Guide. Ohne ihn hätte ich meine sportlichen Erfolge gar nicht erlebt“, meint die Sprinterin.

Bei der Europameisterschaft 2016 stand Katrin Müller-Rottgardt dann gleich zwei Mal ganz oben auf dem Podest. Im italienischen Grosseto wurde sie Erste im 100- und im 200-Meter-Sprint. „Da oben zu stehen und dann auch noch die deutsche Hymne zu hören – das war ein ganz besonderes Gefühl.“ 2017 folgten zwei Silber-Medaillen bei der Weltmeisterschaft in London. Im 100- und 200-Meter-Sprint landete Katrin Müller-Rottgardt auf dem zweiten Platz.

Und trotzdem: Die Aufmerksamkeit für den Behindertensport ist bei weitem nicht auf dem Level des Sports, den die Menschen ohne Beeinträchtigung ausüben.

Natürlich sind die eigentlichen Leistungen der paralympischen Sportler auf dem Papier schlechter. Aber man muss auch sehen, unter welchen Vorraussetzungen die Leistungen entstehen, und dann sind manche aus dem paralympischen Bereich vielleicht doch höher anzusehen als aus dem Nicht-Behinderten Sport.

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Als Zwölfjährige hat Katrin Müller-Rottgardt mit Leichtathletik angefangen. Mit 19 Jahren startete sie das erste Mal bei einem internationalen Turnier. Und sie denkt noch lange nicht ans Aufhören: „Es macht mir unglaublich viel Spaß und ich bin gut darin. Warum sollte ich das also beenden?“ Mittlerweile hat die Sportlerin 19 internationale Medaillen im Sprinten und im Weitsprung gewonnen. Die Erfolge haben das Gesicht der Sportlerin in die Medien gebracht. Sie wird hier und da erkannt, angesprochen wird sie aber selten. „Dabei bin ich ja nicht anders als die anderen. Ich laufe nur ein bisschen schneller“, sagt sie, „wobei – irgendwie sind wir doch alle ein bisschen anders.“

Fotos: Sarah Schröer López

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