Die urzeitliche Lebensform im Badezimmer

 

 

Er ist winzig, schuppig, unglaublich flink, aber leider komplett unansehnlich. Die Rede ist von einem Hausgenossen, den man nur zu gerne übersieht, jedoch nicht ganz übersehen kann, wenn er unerwartet auftaucht: dem Silberfischchen. Wir bekämpfen es zwar als Ungeziefer, doch das Insekt ist nützlicher als man denkt.

Igitt…Da begibt man sich nachts ins Bad, knipst das Licht an und bekommt plötzlich ein Silberfischchen zu Gesicht. Manchmal sitzt es auf dem Waschbecken, manchmal in der Badewanne, ein andermal ist es gerade dabei, die Wand zu erklimmen, bevor es sich blitzschnell in einer Ritze zwischen den Kacheln verkriecht. Aber egal wo man es auch antrifft, die erste Emotion, die sein Anblick bei den meisten Menschen auslöst, ist wohl Ekel. Jeder, dem das sechsbeinige, silbrig glänzende Insekt über den Weg läuft, sucht nach einer Möglichkeit, es zu töten. Zunächst scheint in der Tat keinerlei Grund zu bestehen, weshalb das Lebewesen unser Wohlwollen erwecken sollte. Die Menschheit nimmt es als überflüssig und lästig wahr. Dennoch hat die Wissenschaft dem Insekt ihre Aufmerksamkeit geschenkt und ist nicht nur zum Schluss gelangt, dass es eine durchaus besondere Stellung in der Insektenforschung verdient hat, sondern dass es dem Menschen sogar eher nützen als schaden kann.

Seit Millionen Jahren auf der Erde

Die einzigartige Position, welche das Silberfischchen als Spezies in der Insektenkunde einnimmt, ist auf sein Alter zurückzuführen. Es gehört nämlich zu den Zygentoma, einer Insektenordnung, die bereits seit 300 Millionen Jahren auf der Erde existiert. Der Silberfisch gehört somit zu den Ur-Insekten. „Bei den Zygentoma handelt sich um eine sehr alte Ordnung der Insekten“, bestätigt der Biowissenschaftler Dr. Oliver Adrian, Mitarbeiter des Naturkundemuseums in Dortmund. „Die heute lebenden Fischchen sind natürlich nicht mit denjenigen, die vor Millionen von Jahren gelebt haben identisch. Sie haben sich selbstverständlich, wie jegliche andere Lebensformen auch, weiterentwickelt.“ Jedoch verweist die Tatsache, dass die Spezies keine Flügel besitzt, auf die Wahrscheinlichkeit, dass Fischchen als Übergang zu komplexeren, mit Flügeln ausgestatteten Insektenformen fungiert haben. Auch sind die evolutionären Veränderungen, die die Fischchen im Laufe der Jahrtausende durchgemacht haben, minimal gewesen. Physische Merkmale, die stark auf das Alter der Zygentoma verweisen, sind vor allem die Flügellosigkeit der Spezies, als auch die Tatsache, dass das Tier bereits vollendet geformt aus dem Ei schlüpft. Die Fischchen haben sämtliche Epochen seit dem Erdzeitalter miterlebt und überlebt. Angefangen mit der Auflösung des Superkontinents Pangea vor 150 Millionen Jahren, über das Aussterben der letzten Dinosaurier vor 66 Millionen Jahren, bis hin zur Geburtsstunde der ersten menschenähnlichen Wesen vor 4,5 Millionen Jahren haben die Krabbeltiere durchgehalten. Die am häufigsten aufgefundenen Zygentoma-Überreste stammen aus dem Zeitalter der Jura, vor allem die durch die brasilianischen Forscher Mendes und Sturm im Jahre 1998 entdeckten Cato-Fossilien. Das in Bernstein gefangene Insekt hat im Erdmittelalter gelebt und ähnelt dem Silberfischchen, das heute in unserem  Badezimmer lebt, tatsächlich fast bis aufs Detail. Aus diesem Grunde darf man die Fischchen selbst als „lebendige Fossilien“ bezeichnen, sie stellen eine biologische Verbindung zu den frühesten Stadien des Lebens auf Erden dar.

Auch wenn die Fischchen seit über 300 Millionen Jahren auf unserem Planeten krabbeln, hat es bis ins 18. Jahrhundert gedauert, bis sich die Wissenschaft ihrer annahm. So beschrieb der schwedische Naturforscher Carl von Linné das Silberfischchen in seinem 1758 erschienenen Werk „Systema Naturae“ zum ersten Mal. Schriften aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert belegen die Tatsache, dass es in Europa häufig verbreitet war und sich auch schon damals gerne die Behausung mit dem Menschen geteilt hat. Besonders angezogen wurde es von warmen und dunklen Kammern. Auch der deutsche Naturforscher Karl von Frisch erwähnt den Silberfisch in seinem 1940 erschienenen Werk „Zehn kleine Hausgenossen“ und beschreibt dessen Vorliebe für Räume, die mit einer hohen Luftfeuchtigkeit ausgestattet sind.

Vor nichts fürchten sich die Krabbeltiere mehr als vor Licht. Zudem stellte von Frisch fest, dass das Insekt eine große Vorliebe für Zucker hegt. Aus diesem Grunde hat man es auf den Namen „Zuckergast“ getauft. Die wissenschaftliche, lateinische Bezeichnung für das Silberfischchen lautet demnach Lepisma saccharina, eine Entlehnung des lateinischen Wortes für Zucker „saccharum“. Neben dem Silberfischchen wurden im Verlaufe des 19. und 20. Jahrhunderts vier weitere in Europa lebende Fischchen-Arten entdeckt, zu welchen das Kammfischchen (Ctenolepisma lineata), das Papierfischchen (Ctenolepisma longicaudata), das Ameisenfischchen (Atelura formicaria) und das Ofenfischchen (Thermobia domestica) gezählt werden. Die moderne Entomologie glaubt, dass es über 470 unterschiedliche Fischchen-Arten weltweit gibt und teilt diese in fünf Familien ein. Das Silberfischchen gehört zur Familie der Lepismatiden. 

Ein lichtscheues Leben

Der Grund, weshalb das Silberfischchen sich so oft in unserem Badezimmer blicken lässt, ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass die Insekten eine besondere Vorliebe für Feuchtigkeit hegen. Ein gut geheiztes Bad stellt somit einen ideales Biotop für das synanthrope Lebewesen dar. Richtig wohl fühlen sich die Tiere jedoch in der Dunkelheit. Nichts verabscheut das Silberfischchen mehr als grelles Licht. Das Insekt ist stark an ein Leben in lichtarmen Gebieten angepasst, es besitzt Konvexaugen, mit denen es nur eingeschränkt sehen kann. Viel wichtiger als der Sehsinn ist der Tastsinn des Tieres: Mithilfe seines Zottenschwanzes (Cerci) kann es sich geschickt auch durch die düstersten Winkel hindurchtasten.

Das Paarungsverhalten des Insekts ist äußerst interessant. Natürlich bevorzugen die Tiere auch bei dieser Tätigkeit die Dunkelheit. Wenn Silberfischchen sich fortpflanzen wollen, vollführen sie ein einzigartiges Ritual: Das Männchen und das Weibchen fangen an, einander zu umkreisen, voller Dramatik laufen die Krabbeltiere aneinander vorbei, bis das Männchen seinen Samen in einem Fruchtbeutel ablegt. Das Weibchen setzt sich dann auf dem mit Samenzellen gefüllten Beutel ab und wartet, bis ihre Eier befruchtet werden. Aufgrund der anmutigen, kreisförmigen Bewegungen, die das Silberfischchen während seiner Fortpflanzungszeremonie vollführt, wird der Paarungsakt des Insekts auch als „Tanz“ bezeichnet. 

Das Weibchen legt die Eier, die in ihrem Körper ausgereift sind, an einem vor Lichteinstrahlung geschützten Ort ab, in der Regel schlüpft der Nachwuchs in relativ lichtarmen, meistens unterirdischen Flecken ab, wenn die Eier in der freien Natur abgelegt werden. Sollte sich das Insektennest innerhalb eines Gebäudes befinden, so werden die Eier in einer Wandöffnung abgelegt, in die kein Licht eindringen kann. Bis zu 20 Eier werden abgelegt, aus denen eine neue Insektenpopulation schlüpft. Auch hier bevorzugt es der Silberfisch nicht nur dunkel, sondern auch feucht: Die Luftfeuchtigkeit  muss bevorzugt 75 Prozent betragen. Bis zu fünf Reproduktionszyklen können stattfinden; ein Silberfischchen kann innerhalb seiner Lebenszeit bis zu 100 Eier legen. Zunächst sind die Eier weiß, bevor sie einen bräunlichen Ton annehmen. Die Larven kommen schuppenlos auf die Welt und sind milchig-weiß im Aussehen. Sie sind höchstens 1,9 Millimeter lang. Erst ab der dritten Häutung wachsen dem  Nachwuchs die ersten Schuppen, nach zehn Häutungen ist das Silberfischchen als erwachsenes (adultes) TIer zu bezeichnen. Im Endstadion kann das Insekt bis zu 40.000 Schuppen besitzen. Es wird nicht größer als ein Zentimeter. Ein ausgewachsenes Tier besitzt ein Paar linienförmiger Fühler am Vorderkopf und einen dreizackigen Schwanzanhang (Cerci und Epiproct) am Hinterleib. Ein Silberfischchen kann bis zu acht Jahre leben.

Sie sind nützlicher als man denkt

Der Silberfisch besitzt mehr nützliche Eigenschaften, als auf den ersten Blick ersichtlich erscheint. Denn Silberfische ernähren sich ebenfalls von Dingen, die der menschlichen Gesundheit deutlich schaden, wenn sie sich ungehindert ausbreiten können. So fressen die Insekten auch mit Vorliebe Schimmelpilze, deren Sporen sich durch die gesamte Wohnung verteilen könnten. Manch so ein Allergiker wird sich über die Nachricht freuen, dass auch die lästige Staubmilbe, deren Kot Hautausschläge, tränende Augen, Niesen, Schnupfen und Kopfschmerzen verursachen kann, den Silberfisch zum Fressfeind hat. Die weitere gute Nachricht ist, dass die Insekten selbst keinerlei Krankheiten übertragen. 

Sie besitzen eine erstaunliche Fähigkeit

Wie die altertümliche Bezeichnung für den Silberfisch „Zuckergast“ bereits besagt, hegt das Insekt nicht bloß einen Appetit auf Hausstaubmilben, sondern ist auch äußerst versessen auf zucker- und stärkehaltige Nahrung. Liegengebliebene Essensreste wie Kartoffelscheiben sind daher ein großer Leckerbissen für das Krabbeltier. Jedoch ist die Nahrungsliste des Silberfischchens hiermit ebenfalls noch lange nicht erschöpft. Die wohl bemerkenswerteste Eigenschaft, die ein Silberfischchen auszeichnet, ist dessen Fähigkeit, Papier zu verdauen. Eine Silberfischchenpopulation kann sich durch ganze Bücher hindurchfressen. Dabei ist das Insekt in der Lage, von selbst Zelluloeseinheiten zu spalten – eine Gabe, die kein einziges Säugetier besitzt. Genau diese Fähigkeit könnte sich in Zukunft als äußerst nützlich für die Menschheit erweisen. Amerikanische Entomologen haben die Verdauungsprozesse papier- und holzfressender Tiere erforscht, um zu verstehen, auf welche Weise diese den äußerst widerstandsfähigen Stoff Lignozellulose verdauen können. Durch ein besseres Verständnis der biomechanischen Prozesse, die zur Spaltung von Pflanzenzellwänden im Verdauungstrakt des Insekts stattfinden, könnte eine günstige Herstellung von Biokraftstoffen ermöglicht werden.

Eine neue Fischchenart hat dieses Jahr in Chemnitz für Furore gesorgt

Als ob Silberfischchen im Bad, in der Küche und auf Tapeten nicht bereits genug wären, ist in Sachsen eine neue Art der Krabbeltiere gefunden worden. Forscher des Naturkundemuseums Chemnitz haben das Geisterfischchen – eine wie das Silberfischchen ebenfalls zur Familie der Lepismatidae gehörende Fischchenart, die bisher als in tropischen Ländern angesiedelt galt – nun auch in Europa entdeckt. Dem Entomologen Sven Erlacher gelang es, das Tier gleich zweimal aufzufinden: Das Wesen wurde zum ersten Mal in einem Stadtteil von Chemnitz, das zweite Mal auf dem Gelände des Museums selbst aufgefunden. „Zwei Vorkommen in einer Stadt wie Chemnitz sind sicher kein Zufall, sondern ein Hinweis darauf, dass sich das tropische Fischchen bei uns aktuell ausbreitet“, kommentiert Sven Erlacher. Das Geisterfischchen war noch nie zuvor in Europa gesichtet worden. Aus diesem Grunde bezeichnete das Naturmuseum in Chemnitz die neu entdeckte Krabbeltierart als „Alien„. Unter dem Stichwort „Begegnung der sechsten Art“ betonen die Chemnitzer die Tatsache, dass mit dem Fund des Geisterfischchens offiziel sechs Arten von Fischchen in Deutschland leben. Das Geisterfischchen selbst ist bisher noch nicht gründlich erforscht worden und der heutigen Entomologie ein Mysterium. 1910 wurde es zum ersten Mal auf Sri Lanka  gesichtet, in den 70er-Jahren in Mittelamerika. Um festzustellen, ob es sich tatsächlich um die seltene Fischchenspezies handelt, musste sich Sven Erlachers Team mit einem Experten an der Universität Lissabon absprechen. Das Geisterfischchen bekam sogar seinen eigenen Wikipedia-Eintrag. Wie unterscheidet sich nun Ctenolepisma calva, wie es im lateinischen Fachausdruck heißt, von seinen Verwandten, den Silberfischchen und was hat es mit ihnen gemeinsam? Wie alle Fischenarten meidet auch das Geisterfischchen das Licht. Jedoch ist sein Körperbau wesentlich zierlicher und kleiner, es wird höchstens acht Millimeter lang. Auch ist es äußerst fragil: Seine Fühler und Borsten können schnell abbrechen. Im Aussehen ist es heller. Ansonsten ist das Insekt jedoch noch ein Geheimnis. Auch ist noch ungeklärt, welche Auswirkungen dieser Fund letztendlich auf die Insektenforschung ausüben wird. „Was der Neufund für die Zukunft der deutschen Entomologie bedeutet? Tja, es ist eben ein Neufund einer tropischen Art! Bleibt einfach abzuwarten, wo sie überall noch entdeckt und wer darüber berichten wird“, erklärt Sven Erlacher.

Beitragsbild: flickr.com/oliver.dodd unter Verwendung der CC-Lizenz.

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