Der 30. Oktober 1961 steht für eine umfassende Veränderung der deutschen Gesellschaft. Vor fünfzig Jahren wurde an diesem Herbsttag, in Zeiten florierender Wirtschaft, ein Arbeitskräfteabkommen mit der Türkei unterzeichnet. Hunderttausende Männer machten sich auf den Weg in die unbekannte Ferne. Aus vielen Gastarbeitern wurden Bürger. Mit dem einsetzenden Familiennachzug aus der Türkei wurde Deutschland zur Heimat. Fünfzig Jahre nach dem Anwerbeabkommen leben mehr als 2,5 Millionen türkeistämmige Menschen in Deutschland. Zu ihnen gehört auch die 21-jährige Studentin Filiz. Die Geschichte des Zuzugs, die Erfahrungen der Männer, die in die Schwerindustrie und den Bergbau strömten, kennt sie selber nur aus Erzählungen. Die gebürtige Gelsenkirchenerin, die an der TU Dortmund Anglistik und Informatik studiert, gibt einen persönlichen Einblick in ihre türkisch-deutsche, deutsch-türkische Lebenswelt.
Fatih Akin prägt das deutsche Kino und genießt internationale Wertschätzung. Cem Özdemir führt mit schwäbischem Dialekt die Grünen. Unzählige andere Menschen mit türkischen Wurzeln führen Geschäfte, Unternehmen und vor allem ihr Leben in Deutschland. Ein halbes Jahrhundert nachdem die ersten Züge von Istanbul Richtung Deutschland fuhren, hat sich die Gesellschaft radikal gewandelt. Menschen aus aller Welt und somit natürlich auch die größte Zuwanderungsgruppe, die Türken, veränderten und verändern das Land.
Die biedere bundesrepublikanische Welt der frühen sechziger Jahre war eine andere. Sie dürfte Filiz, wie der gesamten internet- und dönerkundigen Jugend von heute, fremdartig und häufig skurril erscheinen: Die Wirtschaft florierte, statt zu vieler Arbeitslose gab es zu wenig Arbeitskräfte. Es gab die innerdeutsche Teilung, den kalten Krieg, Fernsehprogramm in schwarz-weiß, das Verbot, an unverheiratete Paare zu vermieten und vieles mehr. Fremd müssen den Deutschen damals auch die vielen Ankömmlinge aus der Türkei und anderen Mittelmeerländern gewesen sein. Deutschland wurde als Arbeits-, aber nicht als Lebensziel angesteuert. Ein klassisches Einwanderungsland war es nicht. Um der Perspektivlosigkeit in der Heimat zu entkommen, nahmen diese Migranten Heimweh und das Wohnen in Sammelunterkünften in Kauf.
Auch Filiz‘ Großvater mütterlicherseits machte sich in den Sechzigern auf ins „gelobte Westdeutschland“. Während er in Deutschland als Dachdecker arbeitete, blieben Frau und Kinder in der Türkei. „Er hat hier sechs, sieben Jahre lang gearbeitet. Er hat die Familie von hier aus versorgt.“ Er kehrte aber wieder zurück in die Türkei. Filiz‘ Eltern hingegen kamen in den Achtzigern und blieben. Filiz wurde so in Deutschland geboren. Wenn sie von ihrem „Oppa“ statt ihrem „Opa“ spricht, hört man heraus, dass sie aus dem Ruhrgebiet kommt. Sie fühlt sich sowohl Deutschland, dem Ruhrpott als auch der Türkei verbunden. Die 21-jährige kann sich aber gut in die Situation der türkischen Gastarbeiter einfühlen:

„Ich bin in der Fremde nicht: Ach, die Fremde ist in mir“ (Kemalettin Kamu) – Viele Gastarbeiter fühlten Heimweh. Foto: Christian Teichmann
„Die Sehnsucht nach der Heimat war zwar größer, aber irgendwie musste die Familie auch ernährt werden.“ So fiel es ihrem Großvater auch nicht leicht, den Großteil des Jahres von der Frau und den Kindern getrennt zu sein.
Starke Verwurzelung mit der Heimat der Familie
Die familiären Wurzeln und die Türkei sind Filiz, wie vielen Angehörigen der dritten Generation, enorm wichtig. Die Familie verfolgt deutsche wie türkische Nachrichten gleichermaßen. Wenn sie mal ein Jahr nicht in die beiden Heimatregionen der Eltern, Izmir und Ankara, reisen kann, fehlt ihr etwas. Wenn sie im Urlaub Familie und Freunde besucht, erkennen die Menschen vor Ort sie jedoch schnell als „Deutschländer“. Spätestens wenn sie zu Fuß unterwegs ist und kategorisch bei roten Ampeln stehen bleibt, fällt den Einheimischen ihre deutsche Prägung auf. „Fremd“ in beiden Ländern: „Das ist auch immer das Problem der deutsch-türkischen Bevölkerung. Hier in Deutschland wirst du eigentlich als Migrant gesehen. In der Türkei bist du dann auch nicht die 100-prozentige Türkin, wenn du da bist. Das merken die dann auch direkt. Man ist schon gewissermaßen zwiegespalten.“
Aber Filiz leidet nicht unter der Situation. Sie lebt den Spagat zwischen den Kulturen in einer Form von Mischidentifikation: „Die Identifikationsfrage ist richtig schwer. Ich könnte jetzt auch keine klare Aussage oder klare Definition machen, was ich denn jetzt bin. Am ehesten ein Mix aus türkisch, deutsch, europäisch, asiatisch – Ein Mix aus Weihnachten, Ostern, Opferfest und Ramadan! Ich lebe beide Kulturen sehr gerne!“ Wenn die deutschen Nachbarn Weihnachten feiern, besucht sie diese. Ihre Familie lädt die Nachbarn gerne mal zu türkischem Essen ein.

Osmanische Bauweise im Ruhrgebiet: Die Merkez-Moschee in Duisburg-Marxloh ist die größte Moschee Deutschlands. Foto: Christian Teichmann
In Zeiten eines ständigen Auf und Abs in der Integrationsdebatte sieht sie die Lösung so auch eher im Alltag als in der Politik. Isolationstendenzen im Alltag und der Nachbarschaft müssen ihrer Meinung nach aufgebrochen werden. Sie sieht mehr Offenheit in beiden Gemeinschaften als Voraussetzung. Denn: „Es gibt natürlich auch Türken, die nur unter sich leben.“ Die Enkelin der ersten Gastarbeitergeneration erlebt aber auch Ablehnung und Vorurteile. „Ich habe teilweise schon Arroganz und Distanz mitgekriegt“, sagt Filiz. Als Deutsche und Türken damals in den 60ern zusammen unter Tage arbeiteten, war angesichts der gefährlichen Arbeit absolutes Vertrauen in den „Kumpel“ unabdingbar. Aber nicht immer erlebt Filiz heute solches Vertrauen in die türkeistämmige Bevölkerung. Sie erfährt dies aber meist auf indirekte Art und Weise. „Wenn negative Kommentare über Türken kamen, hieß es jedes Mal: Du bist aber anders! Das kann man dann ja irgendwann nicht mehr hören. Ich bin ja auch ein Teil, eine Teilmenge der Türken.“

Der Bahnhof Sirkeci in Istanbul war Startpunkt hunderttausender türkischer Gastarbeiter nach "Almanya". Foto: Christian Teichmann
Der Orientexpress fährt zurück
Filiz sieht während ihrer Reisen in den Semesterferien, aber auch in den Medien, den rasanten Wandel der Türkei. Die türkische Republik, die aus dem niedergegangenen osmanischen Reich am 29. Oktober 1923 von Kemal Atatürk ausgerufen wurde, erlebt derzeit ein starkes Wirtschaftswachstum. So finden sich gleich zwei Schicksalstage der Türkei am 29. und 30. Oktober. Während Kemal Atatürk eine laizistische, an dem Westen ausgerichtete Türkei zum Leben brachte und weiterhin als Nationalheld verehrt wird, orientiert sich der häufig in der Kritik stehende Ministerpräsident Erdogan derzeit am konservativen und religiösen Lager. Doch sei das Bild der Deutschen von der Türkei, so Filiz, oft zu einseitig und zu sehr von den ländlichen, konservativen Regionen geprägt. Sie ist selbst erstaunt, wie modern westliche Städte wie Istanbul und Izmir seien. Gerade die Metropole Istanbul boomt derzeit. Viele Menschen kehren in die Türkei zurück. „Ich höre das von vielen Menschen, die in meinem Alter sind. Jetzt ist Istanbul, glaube ich, gerade etwas ‚in‘. Es machen auch sehr viele ein Auslandssemester in Istanbul oder Izmir.“
Viele, so auch sie, spielen mit dem Gedanken, später in der Türkei zu arbeiten. „Man bekommt das auch ständig von den Eltern mit: Die Sehnsucht zurückzuwandern. Die ganze Kindheit steckt da.“ Doch sie ist sich sicher: Selbst wenn sie Deutschland einmal verlassen sollte, würde sie nie mit dem Land und der Umgebung, in der sie aufgewachsen ist, brechen. Dazu sind die sozialen Bindungen, Freundschaften und Erinnerungen zu stark. Filiz lebt, wie hunderttausende andere, ein Leben im kulturellen Spagat.
Yunus Ulusoy: „Fatih Akins auf vielen Ebenen“
Dass Deutschland große Fortschritte in der Integrationspolitik gemacht hat, steht für Yunus Ulusoy von der Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung (ZfTI) in Essen, fest. Nahezu die Hälfte der türkischen Integrationsgeschichte hat das Institut empirisch und wissenschaftlich begleitet. Anlässlich des 50-jährigen Jubiläums des Anwerbeabkommens veranstaltete das ZfTI am 14. September ein Symposium unter dem Titel „Deutsche Türken – Türkische Deutsche?„.
Er sieht von beruflich-wissenschaftlicher Seite, in Projektarbeiten, aber aufgrund seiner türkischen Herkunft auch anhand seiner eigenen Biographie den Wandel Deutschlands. „Heute gibt es Fatih Akins auf vielen, vielen Ebenen. Nicht jeder ist so berühmt, aber wenn Sie heute irgendwo in Deutschland in einer Großstadt eine Ratssitzung besuchen würden, würden sie dort auf Menschen mit Migrationshintergrund treffen. Es gibt heute viel, viel mehr positive Bilder.“ Yunus Ulusoy, der Abteilungsleiter für Wirtschafts- und Arbeitsmarktorientierte Integrationsprojekte am ZfTI ist, schließt sich der Schwarzmalerei der Medien nicht an. Wie Filiz steht er persönlich zu einer gemischten Identität und sieht diese als Bereicherung in einer globalisierten Welt. Yunus Ulusoy gab pflichtlektüre.com ein ausführliches Interview zum Status Quo des deutsch-türkischen Zusammenlebens – 50 Jahren nach dem Anwerbeabkommen.
Hier reinhören:
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- Multikulti im „Stadium der Geburtswehe“
- Türkeistämmige in der Integrationsdebatte
- „Hybride Identifikationsformen“
pflichtlektüre: Integrationsdebatte am Campus
web: 50 Jahre Anwerbeabkommen mit der Türkei | ZDF
web: Der Süper-Pionier | SPIEGEL ONLINE
web: 50 Jahre türkische Gastarbeiter | sueddeutsche
web: Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung
web: Mit dem Transit durch Almanya | ARD
web: Alles türkisch, alles deutsch oder was? 50 Jahre türkische Einwanderung | ARD
web: 50 Jahre Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei | DW
Ein sehr gelungener Artikel.