Migräne: „Wie Branntwein im offenen Schädel“

Rund zehn Prozent der Bevölkerung leidet unter Migräne – darunter viele Studenten, die unter ständigem Prüfungs- und Leistungsdruck stehen. Dennoch weisen die Behandlungsmethoden einige Schwachpunkte auf. Dagegen angehen will die von 20 Ärzten gegründete Initiative „Heads Up“, an der auch Professor Dr. Hans-Christoph Diener vom Essener Universitätsklinikum mitwirkt.

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Stefan Weise ist Gründer der StudiVZ-Gruppe „Die Migränegeplagten (Migräne)“. Die Gruppe hat aktuell 434 Mitglieder. Foto: privat

Man stelle sich vor: Die eine Kopfhälfte ist offen, das Fleisch schon sichtbar, jetzt gießt jemand Branntwein in die Wunde und drückt mit dem Daumen immer wieder zu. So beschreibt Stefan Weise den Schmerz, den er fühlt, wenn er wieder einen Migräneanfall bekommt. Der 33-jährige Literatur- und Philosophiestudent aus Berlin leidet seit seinem 18. Lebensjahr unter der Krankheit – und das an etwa 20 Tagen im Monat. „Es ist ein sehr präsenter, brennender Schmerz – vergleichbar mit einem starken Sonnenbrand, wo jemand noch zusätzlich draufhaut“, schildert er.

Die Migräne diktiert seinen Tagesablauf: Zwei Drittel des Monats kann Stefan Weise nur ausharren – im Bett, zugedröhnt mit Medikamenten, die den Schmerz nur lindern, aber nicht komplett bekämpfen. An solchen Tagen muss er Vorlesungen, private Verabredungen und Nebenjob canceln, aufs Wäschewaschen, Bügeln und sogar Duschen verzichten, weil es ihn zu sehr anstrengt.

Medikamentenbudget von 150 Euro

Zehn Jahre lang ist Stefan Weise von Arzt zu Arzt gelaufen, vom Neurologen zum Schmerztherapeuten bis hin zu speziellen Migränekliniken – vergeblich: „Überall habe ich nur Aspirin oder Paracetamol bekommen, die aber nicht ausreichen“, schildert er. „Für die wirksamen, aber teuren Medikamente musste ich regelrecht betteln.“ Nach zehnjähriger Suche hat der Student einen Neurologen gefunden, der ihm Triptane – also Arzneimittel mit schneller und effektiver Wirkung verschreibt. Die machen den Schmerz erträglich, sind jedoch teuer: Sechs Tabletten kosten zwischen 40 und 50 Euro, 20 Tabletten Paracetamol gibt es hingegen schon für 3 Euro.

„Jeder Arzt hat ein monatliches  Medikamentenbudget von 150 Euro pro Patient“, erklärt der  Dortmunder Neurologe Dr. med. Markus Bock.  Alles was überschritten werde, müsse der Arzt aus eigener Tasche zahlen oder in einem umständlichen Antragsverfahren bei der Kassenärztlichen Vereinigung beantragen. Dies seien wahrscheinlich die Gründe dafür, überlegt Bock, warum sich viele Neurologen weigern, die teuren Triptane zu verschreiben.

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Professor Dr. med. Hans-Christoph Diener will sich im Rahmen der Initiative „Heads Up“ für verbesserte Migränebehandlungen einsetzen. Foto: Uni Duisburg-Essen

Für weltweit bessere Migränebehandlungen will sich die „Heads Up“-Initiative um den Essener Professor Hans-Christoph Diener jetzt stark machen. Auf einer Migräne-Konferenz haben er und 19 weitere Neurologen und Allgemeinmediziner aus zehn europäischen Ländern sowie Kanada fünf wesentliche Punkte vereinbart: 1. Die Behandlung soll im Idealfall multidisziplinär erfolgen – eine Kooperation von Ärzten, Psychologen und Physiotherapeuten, 2. Verbesserte Ausbildung der Mitarbeiter in Gesundheitsberufen, 3. Aufklärung der Patienten über die einzelnen Behandlungsverfahren, 4. Stärkere Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten sowie 5. zwischen Allgemeinmedizinern und Neurologen.

„Verwirrte Patienten“

Die beiden Hauptprobleme in der Migräneversorgung sieht Professor Diener zum einen darin, dass Patienten von „Einzelkämpfern“ statt von integrierten Versorgungssystemen betreut werden, zum anderen in der völlig freien Arztwahl. „Die Patienten bekommen überall eine andere Diagnose und sind anschließend vollkommen verwirrt“, kritisiert Diener. Dagegen will „Heads Up“ angehen und sich für eine bundesweit einheitliche Kooperation von mehreren Medizinern einsetzen – nach rheinländischem Vorbild: „Dort gibt es bereits die Integrierte Versorgung Kopfschmerz, wo Neurologen, Psychologen, Sporttherapeuten und Physiotherapeuten eng zusammenarbeiten.“ Eine solche Umsetzung scheitert allerdings am jetzigen Gesundheitssystem.

Stefan Weise – den verschiedene Ärzte übrigens als „besonders starken Fall“ einstufen – hält sich weiterhin mit Triptanen über Wasser, die er sofort einnimmt, wenn sich die ersten Anzeichen eines neuen Anfalls äußern. Sein Tipp: Ganz genau auf den Körper achten, geregelte Schlaf- und Esszeiten schaffen, sich bei Migräneattacken absolute Ruhe gönnen. „Das Schlimmste, was man machen kann, ist von morgens bis abends durchpowern“, sagt er. Dennoch wünscht er sich so oft, einfach ein ganz normales Leben zu führen, so wie es andere junge Leute tun: feiern gehen und sich verabreden – ganz spontan, ohne zu überlegen, ob der nächste Anfall schon bevorsteht. Denn die Krankheit kostet ihn nicht nur Freizeitverlust – sie führt immer mehr in eine Sackgasse: die Isolation.

10 Comments

  • Petra sagt:

    Migräne wird oft durch Mineralstoffmangel ausgelöst. Besonders Magnesium ist wichtig. Am besten nehmen wir Mineralstoffe über die Füße in einem Fußbad auf. Dann können sie auch nicht überdosiert werden und Verdauungsprobleme verursachen. Zudem entgiftet ein Mineralstofffußbad hervorragend. Einen besonders guten Bericht über Mineralstoffe und deren Wirkung auch bei Migräne, habe ich hier gefunden: http://gesund.colo-world.com/cms/de/mineralstoffmangel-als-verursacher-vieler-chronischer-erkrankungen
    Diese Mineralstoffe verwende ich schon seit einiger Zeit und seither habe ich keine Migräne mehr und die Wadenkrämpfe gingen auch weg.

  • Stefan Weise sagt:

    @Pseudomonas: Nasenspray hilft mir nicht, und Zomig ist seit September nicht lieferbar. Letzte Woche rief mich meine Apotheke an und sagte, sie haben jetzt 3 Packungen 2,5 mg. Das reicht bei mir, wenns gut kommt, zwei Wochen. Ein Hohn!
    Der Artikel ist nicht der schlechteste zu dem Thema und in kürzerer Form bereits an anderen Orten erschienen. Da war er mir zu positiv und zu unkritisch, denn er verschweigt die enormen Probleme, in die Migräniker durch diese Festbetragsänderung geraten, die sich diese Medikamente nicht leisten können und denen nicht ohne weiteres der Umstieg auf ein anderes Medikament gelingt.
    Der letzte Absatz wurde später hinzugefügt; er ist Teil einer Antwort von Prof. Göbel auf meine vehementen Beschwerden über diese Regelung. Ich freue mich besonders, daß er nun darauf hinweist, daß die Zusammenfassung der Triptane zu einer Wirkstoffgruppe eigentlich Unfug ist. Als letzten Punkt enthielt die Antwort an mich jedoch, sich beim Sozialamt zu melden.

  • Pseudomonas sagt:

    @ Stefan Weise:
    Zu den Triptan-Aufzahlungen habe ich folgenden interessanten Artikel gelesen: http://netz.schmerzklinik.de/wp-content/blogs.dir/1/files/group-documents/2/1288287156-STK_0410_Pharmakotherapie_28-10-10.pdf
    Speziell zu Ascotop steht dort: „Der Wirkstoff Zolmitriptan des AscoTop® wird international unter dem Namen Zomig® vertrieben. Theoretisch gilt auch hier wieder, dass nur Re-Importeure wie EMRA-MED oder EURIM Pharm die Festbetragsgrenze unterschreiten. Allerdings ist Zomig® als Tablette oder Schmelztablette nur in der 2,5-mg-, nicht in der 5-mg-Dosis gelistet und Anfang Oktober gab es Lieferschwierigkeiten. Da Triptane in anderen Darreichungsformen als Tabletten oder Schmerztabletten (Nasensprays,
    Zäpfchen und Autoinjektor) von der Festbetragsregelung nicht betroffen sind,
    könnte vorübergehend auf AscoTop® 5 mg als Nasenspray ausgewichen werden. Hier
    wäre nur die 10%ige Zuzahlung zu leisten.“

  • Birgit Weise sagt:

    Liebe Caroline, lieber Stefan,

    danke für den aufschlussreichen Artikel! Er ist sehr bewegend geschrieben und macht auf neue Weise nachdenklich. Ich leide seit meinem 27. Lebenskahr an Migräne, kann mir aber kaum Auszeiten leisten, auch wenn ich im Monat an ca. zwölf bis fünfzehn Migräne-Attacken leide.

    Die Triptane helfen für ein paar Stunden, doch oftmals kommt eine Kette an Migräneanfällen in Gang. Sicher hilft ein langsameres Leben, aber wer kann es bei den heutigen beruflichen bzw. schulischen Anforderungen leisten? Das Gleiche gilt natürlich für Studenten: Der permanente Leistungsdruck, den ich auch als Lehrerin habe, unterstützt sicher die Anfälligkeit für ANFÄLLE. Heute hörte ich im Radio (RBB Kultur) eine Sendung über die Auswirkungen der mit Glutamat versetzten Nahrungsmittel. Auch dieser Stoff provoziert Clusterkopfschmerz und eventuell auch Migräne. Dazu gibt es meines Wissens noch keine Studien.

    Ich begrüße es, dass es Foren gibt, in denen man sich öffnen kann, denn es gibt nur wenige unter den Nicht-Migränikern, die etwas von den mit Migräneattacken verbundenen Problemen verstehen bzw. sich gar einfühlen können.

    Mit lieben Grüßen

    Birgit Weise

  • Stefan Weise sagt:

    Korrektur zum letzten Beitrag: Ich müßte nicht 150€ im Jahr zuzahlen, sondern im Monat.

  • Stefan Weise sagt:

    Inzwischen (seit 1.9.) ist es so, daß für einige von den Triptanen erhebliche Aufzahlungen fällig werden, die man von der Kasse nicht ersetzt bekommt. Für 6 Tabletten Ascotop 5mg muß man zum Beispiel 28,-€ zuzahlen. Die 150€, die das für mich im Jahr bedeutet, kann ich mir als Student nicht mehr leisten. Die Krankenkassen, der Gesundheitsminister, Bundesbehinterten- und Patientenbeauftragte und auch bekannte Ärzte sagen dasselbe: Nimm doch einfach ein anderes Triptan, für das keine Aufzahlung zu leisten ist!
    Leider ist das aber nicht so einfach: Den meisten Migränikern helfen nur ein bis zwei von den sieben aktuell erhältlichen Triptanen. Wenn man wie ich Pech hat und die erwischt, die teuer sind, kann man nichts machen. Zahlen oder die Migräne aushalten!
    Ich mußte jetzt auf Imigran-Spritzen umsteigen, deren Anwendung sehr unangenehm ist, und die nur manchmal helfen. Jeden zweiten Tag so ein Teil in den Bauch oder ins Bein gespritzt, und dann geht es wieder. Aber nach sechs Stunden ist der Schmerz wieder da. Zwei von den Spritzen darf man an einem Tag bloß nehmen. Dann heißt es also wieder öfter: Verabredungen und wichtige Termine absagen, den Hund in die Wohnung scheißen lassen, nichts essen, nicht schlafen können.
    Ich ergänze das nicht, um MItleid zu erwecken, sondern um zu zeigen, wie unzumutbar die Situation für viele Migräniker im Moment ist. Manche zahlen zähneknirschend die Gebühr, können dann aber nicht in den Urlaub fahren oder müssen auf kulturelle Aktivitäten verzichten. Und was ist mit denen, die erwerbslos sind oder ALGII beziehen?
    In den Medien wird Migräne allgemein und weiterhin als ein kleines Übel dargestellt. Einfach ne Tablette rein, und gut is, volle Kraft voraus. Wer Probleme hat, verhält sich eben falsch. Und die neue Zuzahlung ist auch nicht so schlimm – man kann ja was anderes nehmen. Und sie ist gut, weil dadurch die Kassen endlich mal nicht so viel Geld ausgeben müssen.
    Nur leider wird hier auf Kosten der Patienten gespart, die auf die Medikamente angewiesen sind.

  • Helena sagt:

    Lieber Stefan,
    ich finde es toll, dass du dich so dafür einsetzt über Migräne aufzuklären. Wir sitzen alle im selben Boot und sind trotzdem isoliert.
    Ich finde es aber schade, dass Kollege Diener noch der Meinung zu sein scheint, dass Migräne ein psychologisches Problem ist. Lieber Professor Diener, genau diese Annahme der Umwelt macht uns das Leben zur Hölle. Niemand ist psychisch ganz gesund, auch der Migränepatient nicht, aber der auch nicht mehr oder weniger. Eine multidisziplinäre Behandlung sollte lieber die Akupressur, TCM, Ayurveda und Entspannungstechiken beinhalten.
    Bei der Akupressur empfehle ich den Gallenpunkt 43 (Oberseite des Fußes, medial neben der Sehne des kleinen Zehs) und Gallenpunkt 4, unten am Hinterhauptknochen, bei einem Anfall zu reiben. Auch Dickdarm 4 ist ein sehr nützlicher Punkt.
    Probiert’s mal aus. Schaden kann es nichts und wenn es hilft, ändert sich Euer Leben drastisch.
    Mit freundlichen Grüßen
    Helena (Medizinwissenschaftlerin und Migränegeplagte)

  • Caroline Biallas sagt:

    Lieber Leser,

    herzlichen Dank für den weiteren Link und die ergänzenden Informationen zum Thema.
    Viele Grüße und schöne Feiertage wünscht

    Caroline Biallas

  • Knorpel sagt:

    Einen Link würde ich noch nachtragen, den ich für am hilfreichsten halte, weil er nicht nur umfassend und wissenschaftlich fundiert über das Leiden aufklärt, sondern auch zur Webseite der Schmerzklinik in Kiel gehört, die eine der empfehlenswertesten Adressen für verzweifelnde Migräniker und Migränikerinnen ist: http://migraene-schule.de

  • Knorpel sagt:

    Schmerztherapeuten sind immer die richtigen Anlaufpunkte, wenn man Triptane braucht, noch dazu in großer Menge. Außerdem sind sie oft viel bessere Kopfschmerzspezialisten als die meisten Neurologen oder gar Ärzte anderer Fachrichtungen – und kennen sich deshalb besonders gut mit Migräne aus. Vielen Migränikern helfen rechtzeitig eingenommene Triptane richtig gut. Sie beseitigen weitgehend den Kopfschmerz und die Übelkeit. Somit besteht kaum noch Gefahr, daß die Migränikerin, die sich ständig übergeben muß, deswegen dehydriert. Nicht selten bleibt aber die allgemeine Schwäche, Denk-, Merk- und Konzentrationsstörungen auch mit Triptan noch bestehen. Triptane helfen, wie auch Schmerzmittel, bei Migräne nicht immer. Es gibt immer wieder Anfälle, die sich nicht behandeln lassen. Der beschriebene Fall ist schon sehr heftig. Die meisten Migränekranken haben wesentilich weniger Anfälle – von ein paar Anfällen im Jahr bis ca. einmal die Woche. Danke für den Artikel, der das Leiden hoffentlich etwas ins Gespräch bringt und das Vorurteil abbauen hilft, Migräne seien „nur Kopfschmerzen“.

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