Buchtipp: Gentlemen ─ wir leben am Abgrund

„Gentlemen-wir leben am Abgrund“ erzählt die Saison 2010/2011 der Profibasketballer von Alba Berlin. Aber statt der gewöhnlichen Ergebnisberichterstattung, berichtet der Autor Thomas Pletzinger mitten aus dem Team. Er beleuchtet die Hintergründe des Vereins, der Spieler und letztendlich der Saison. Einer Saison, die für Alba Berlin extrem turbulent verlief, einen Trainerwechsel und zahlreiche Krisen beinhaltete und trotzdem relativ erfolgreich war. Schließlich wurde die Mannschaft immerhin Deutscher Vizemeister. Pletzinger war knapp ein Jahr lang Teil des Teams und wurde dabei aus einem nüchternen Beobachter zum leidenschaftlichen Fan.

„Meine Jugend habe ich in Turnhallen verbracht, ich erinnere mich an jede einzelne, die Umkleidekabinen, Waldläufe, Krafträume,“, erzählt Pletzinger. „Ich erinnere mich an die Busverbindungen dorthin.“ Denn Pletzinger war selbst ein äußerst ambitionierter Basketballspieler in der Jugend. Doch während seine Mannschaftskollegen Bundesligaspieler wurden, manche es sogar ins Nationalteam schafften, musste er eines einsehen: Basketballprofi wird er nicht.

Thomas Pletzinger, 1975 geboren, lebt und arbeitet mittlerweile in Berlin. Zudem ist er Gastprofessor an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg. Foto: Juliane Henrich

Thomas Pletzinger, 1975 geboren, lebt und arbeitet mittlerweile in Berlin. Zudem ist er Gastprofessor an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg. Foto: Juliane Henrich

Stattdessen wird der gebürtige Hagener Autor und Übersetzer. Er erfüllt sich seinen Traum, Teil eines Basketballteams zu sein, jedoch über den zweiten Berufsweg, indem er darüber schreibt. Dabei nimmt er zu Beginn noch strikt die Rolle des Beobachters ein, was vor allem am damaligen Trainer Albas, Luka Pavicevic liegt. Der nämlich genehmigt ihm zwar über seine Mannschaft und die Saison zu berichten, aber unter strengen Auflagen. Pletzinger soll bei den Trainern sitzen, den Rhythmus des Teams nicht stören, die Spieler am Spieltag nicht interviewen und überhaupt alle Regeln ausnahmslos befolgen.

Ein Team, viele Geschichten

Und so war Pletzinger die folgenden zehn Monate dabei. Mit der Mannschaft im Trainingslager in den slowenischen Alpen, an den Gepäckbändern in Moskau, in Cafés in Sevilla, in den zahlreichen Umkleidekabinen und vor allem auf den unzähligen Busfahrten. Dabei schafft es der Autor abseits der oftmals öden Ergebnisberichterstattung aus der Presse, die kleinen Geschichten hinter dem Sport zu erzählen, die teils skurrilen Rituale der Profis oder die Marotten der Trainer.

So zum Beispiel die Marotte des Alba-Trainers Pavicevic sich über Basketball und die Welt auszulassen. Aus einem dieser Monologe entspringt auch der Titel des Buches. Darin spricht der Coach über Charakterstärke, Entscheidungen und den Konsequenzen daraus. Irgendwann fällt folgender Satz, der für Pletzinger eine symbolische Bedeutung bekommt: „Gentlemen, we’re living on the edge.“

Aber auch die Einzelschicksale der Sportler werden beleuchtet. „Bryce war ein Mischwesen. Er war Basketballprofi und gleichzeitig das Gegenteil eines Basketballprofis“, beschreibt Pletzinger den Spieler Bryce Taylor. „Er stammte aus der Autostadt Los Angeles, aber in Berlin fuhr er mit Bussen und Bahnen. Bryce war Sohn eines Basketballprofis, aber war bei seiner Mutter aufgewachsen.“ Neben den gelungenen Porträts von Spielern und Trainern bekommt der Leser ebenso die Minuten kurz vor Spielbeginn, die Stimmung in den Pausen und alles nach Spielschluss mit.

Basketball so nah wie selten

Für das Cover hat sich der Verlag Kiepenheuer & Witsch etwas Spezielles einfallen lassen: Die Oberfläche des Covers fühlt sich wie ein echter Basketball an. Foto: Kiepenheuer&Witsch

Für das Cover hat sich der Verlag Kiepenheuer & Witsch etwas Spezielles einfallen lassen: Die Oberfläche des Covers fühlt sich wie ein echter Basketball an. Foto:Kiepenheuer&Witsch

Aufgelockert werden die teils sehr mit Fachwörtern gespickten Abschnitte durch Bilder von den verschiedenen Stationen, aber auch von Fans oder dem Hausmeister der Alba-Sporthalle. Und wenn Pletzinger über die Entwicklung des deutschen Basketballs philosophiert oder eine detaillierte Beschreibung des Sprungwurfs seines Lieblingsspielers gibt, wird eines deutlich: Der Leser muss großes Interesse für Basketball oder allgemein für Sport haben. Obwohl das Buch sprachlich gut und unterhaltsam geschrieben ist, würden Sportmuffel nach kurzer Zeit wohl die Lust verlieren.

Alle anderen, die weiterlesen, erleben dagegen wie nah Pletzinger dem Team kommt. Das liegt zum einen daran, dass Anfang des Jahres 2011 der Trainer Pavicevic entlassen und durch den Israeli Muli Katzurin ersetzt wird, der nicht mehr so strenge Auflagen hat. Zum anderen ist Pletzinger mittlerweile Teil des Teams geworden. Die Spieler haben ihn akzeptiert, er sitzt stets in der Umkleidekabine und bei den Spielen direkt hinter der Spielerbank.

Das „Wir“-Gefühl

Und genau in dieser extremen Nähe, diesem Verlust der Distanz liegt der schmale Grat dieser Reportage. Denn einerseits konnte Pletzinger nur durch diese Nähe die Höhen und Tiefen der Saison, sowie die ganzen Anekdoten einfangen. Andererseits merkt der Leser wie aus dem „Die Mannschaft von Alba Berlin“ ein „Wir“ wird und der nüchterne Beobachter sich irgendwann mit dem Verein identifiziert. Das Motto des Buches könnte demnach auch „Mittendrin statt nur dabei“ lauten.

Doch dessen ist sich der Autor bewusst: „Aggressive Grundstimmung & Kleingärtnerhass, notiere ich, und bemerke dabei meine eigene Aufregung, meine eigene vollkommene Parteilichkeit“, analysiert Pletzinger eine Szene während eines Auswärtsspiels. „Ich bin nicht neutral, ich bin es nie gewesen.“ Doch vielleicht macht gerade diese extreme Nähe den Charme und die Qualität dieser Reportage aus. Pletzingers Ausflug in den Profibasketball endet übrigens genau so, wie er begonnen hat, mit einer Busfahrt.

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