Pokémon Go: Wanna catch em all?

jochen-domini

Es ist der Hype der letzten Tage: Pokémon gibt es plötzlich virtuell an jeder Straßenecke und bringen eine riesige Fangemeinde zum Ausflippen. Doch schon jetzt stürzen sich erste Kritiker bereitwillig auf das Gaming-Phänomen. Ist Pokémon GO Fluch oder Segen? Unsere Autoren sind bereit für ein Duell, um es herauszufinden!

Moderne Nostalgie,

findet Jochen Duwe

Es ist Weihnachten 2005. Als 10-jähriger kleiner Dötz mit Schmuddelpulli und einem sehr fragwürdigen Haarschnitt sitze ich vor dem Tannenbaum und durchbohre fanatisch ein kleines, quadratisches Geschenkpäckchen mit meinen Blicken. Der Grund? Darin befindet sich in meinen kühnen Hoffnungen die Pokémon-Smaragd-Edition für den GameBoy Advance. Gut zweieinhalb Monate harte Erweichungsarbeit hatte ich in weiser Voraussicht zuvor investiert, um meine den kleinen Taschenmonstern eher skeptisch gegenüber stehenden Eltern für das Spiel zu begeistern. Ihnen mehr oder weniger subtil mitzuteilen, dass ich es haben will. Korrigiere, BRAUCHE.

Pokémon war halt der Shit, schlechthin, unangefochten. Wer es gespielt hat, kennt das Gefühl, von dem ich spreche. Ganz egal, ob in unaufgeräumten Kinderzimmern oder auf grauen Pausenhöfen, das Ding war Pflicht. Und jeder wollte dabei sein. Long story short: Besagter kleiner Dötz von damals wurde an jenem Weihnachtstag verdammt glücklich.

Diese Zeiten fliegen nun schon bald seit elf Jahren unaufhaltsam in Richtung „lange vergangen“, und soo viele Dinge haben sich verändert. Abgesehen von zweierlei: Weihnachten ist immer noch geil – und Pokémon ist immer noch der Shit. Glaubt ihr nicht? Verständlich, bis vor einer Woche hätte ich auch so meine Zweifel gehabt. Die wurden von „Pokémon GO“ dann aber mit einer derartigen Geschwindigkeit ins Jenseits geschossen, so schnell konnte ich meinen Play-Store nicht öffnen.

All aboard the Hypetrain

Mehr als 15 Millionen Pokénerds haben sich das Augmented-Reality-Game in den 10 Tagen seiner Verfügbarkeit bereits schnurstracks auf ihr Smartphone befördert. Und das zeigt vor allem eines: Der japanische Spielehersteller Nintendo hat seit 1995 eine solche Nostalgie in die Herzen der Millennials gebrannt, dass sich die Glut von damals auf einen Schnipp wieder zum lodernden Feuer entfachen lässt. Der Hype bricht durch alle Decken; Pokémon monopolisiert jedermanns Facebook-Newsfeed und Spiegel Online schreibt einen Artikel über kleine, animierte Kampfmonster für Kinder. Es ist kompletter Wahnsinn. Und ich finde es wahnsinnig cool.

Mal-Kind-sein

Allein schon, weil wir uns heutzutage viel zu selten erlauben, das Kind im Manne ans Tageslicht zu lassen. Genauso wenig wie das Kind in der Frau. Und falls vorhanden, ist offenes Umgehen mit einem kindlichen Hobby doch eher rar gesät. Aber was ist es für ein Seelenbalsam, sich mitten in der Tristesse des Studien- oder Berufsalltags 50 Meter entfernt ein Taubsi unter den Nagel zu reißen! Man muss einfach nur mal die gesellschaftlichen Eier haben, es auch zu tun!

In Internetvideos sitzen, stehen und spazieren bereits dutzende Menschen durch sonst so gähnend leere Stadtparks und haben ein kindliches Glitzern in den Augen, weil sie zum ersten Mal losziehen und tatsächlich waschechte Pokémon-Trainer*innen sein können. Und in den USA durfte ein Jugendlicher zu später Stunde einem Gesetzeshüter gegenüber panisch beteuern, dass er sich gerade auf der Suche nach neuer Unterstützung für sein Team befinde – und nicht nach potentiellen Drogenabnehmer*innen. (Eine halbe Stunde später hatte der Polizist die App übrigens auch und ließ seinen Kollegen über Funk wissen, dass es viel zu viele Rattfratz in der Umgebung gibt.)

Pokémon suchen, Freunde gewinnen

„Das Spiel ist reiner Datenklau“, „eine Gefahr für den öffentlichen Verkehr“, „dieser Kram desozialisiert“, mögen nun so manche Berufsskeptiker*innen mit Argwohn mosern, aber Fakt ist: Smartphones an sich sind reiner Datenklau. Wenn man blöd genug ist, im Verkehr auf sein Display zu glotzen, macht es auch keinen Unterschied, von welcher App man sich gerade hat ablenken lassen. Und eines möchte ich gern klarstellen: der Kram SOZIALISIERT. Ungemein.

Diejenigen, die sonst zum Zocken das heimische Sitzleder bevorzugen oder generell ganz gern in den eigenen vier Wänden bleiben, latschen jetzt sportlich kilometerweite Strecken runter und organisieren auf Facebook Pokémon-Walks, Pokémon-Picknicks, Pokémon-Pubcrawls. Sie marschieren frohen Mutes in die weite Welt und treffen zum Fangen, Kämpfen und Tauschen ihresgleichen. Das Gute: Das sind a) enorm viele (Tendenz steigend) und b) sind es Leute, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Frauen, Männer, gerade 15, Anfang 30, Asiate, Deutschtürkin: Es ist völlig gleich, da dieses Spiel jenseits von sozialen Grenzen zu begeistern vermag, und eine offene, kontaktfreudige, vernetzte Generation anspricht, die den Spaß am Spiel noch nicht verlernt hat.

Ich für meinen Teil sehe darin ein Riesenpotenzial, erlebe derzeit ein nostalgisches Hoch wie schon lange nicht mehr – und wer dieses kleine Phänomen immer noch kategorisch ablehnt: Dann mach halt Sudokus, du Langweiler.

Outsch!

findet Dominik Rosing

Jetzt stellt euch doch einmal vor, ihr liegt tiefschlafend im Bettchen, versunken im schönen Reich der Träume und plötzlich… „Whuuuuu, ich hab’ ein Pikachu gefangen!!!“ Jemand, euch nicht bekannt, steht bei euch im Zimmer, den Blick starr auf sein Smartphone gerichtet. In seinem Gesicht ist völlige Besessenheit zu erkennen. Seine Gedanken kreisen nur um die Fragen, wo sich das nächste Objekt seiner Begierde befindet und ob sich in dieser Blumenvase ein Knofensa versteckt. Klingt unglaublich? Klingt eher nach einem schlechten Traum? Dank Pokémon Go ist DAS aber bittere Realität.

Ich wollte sie alle fangen. Ich wollte der Allerbeste sein, wie keiner vor mir war. Stunden, nein Tage, Wochen, Monate  und vielleicht sogar Jahre saß ich vor meinen Game Boys und spielte alle Editionen durch. Angefangen mit der roten Edition auf meinem ersten Game Boy Color, bis hin zur Smaragdedition auf meinem immer noch funktionstüchtigen Game Boy Advance SP. Bei den folgenden Generationen bin ich langsam entglitten. Auch heute krame ich hin und wieder meine große Spielekiste heraus und gehe auf Abenteuer mit meinen alten Freunden. Dabei blicke ich auch stolz zurück und schwelge in Erinnerung. Meine ersten Schritte, mein erster Kampf und wie ich mein Glurak ohne Sonderbonbons auf Level 100 trainierte – ich war wirklich der Allerbeste!

Smombies überall

Doch nun ist Pokémon Go auf dem Markt und ich spüre keinen Drang mir die App herunterzuladen. Was ist bloß passiert? Bin ich zu alt? Habe ich etwa meinen Spaß an solchen Dingen verloren?  Bin ich tatsächlich erwachsen geworden? Wer mich kennt, wird dies mit aller Vehemenz verneinen. Dennoch bleibt der App-Store geschlossen.

Denn nach Filmen wie I am Legend oder dem Serienklassiker The Walking Dead weiß ich mittlerweile, wie es mit der Menschheit zu Ende gehen kann. Und wer mal einen Blick aus dem Fenster wirft, wird nur noch zombieähnliche Kreaturen (Smombies) sehen, die mit ihrem Gesicht volles Brett gegen die Wand laufen. Bald muss das Verkehrsministerium darüber nachdenken, ob es nicht Schilder mit der Aufschrift „Don’t drive and play Pokémon Go“ anbringt. Erste Auffahrunfälle gibt es nämlich schon.

Auf den sozialen Netzwerken kursieren erste Videos, in denen große Menschentrauben befahrene Highways fluten, weil sich dort ein seltenes Pokémon befindet. In einem Krankenhaus in Amsterdam schlenderten plötzlich Smombies durch die Gänge, sodass das Krankenhaus gezwungen war, auf Twitter darum zu bitten, das „kranke“ Pokémon doch bitte in Ruhe genesen zu lassen. Dass selbst an solchen Orten Glumanda, Shiggy und Co. zu finden sind, ist nicht nur gefährlich für die Spieler, sondern auch für Unbeteiligte. 

Und selbst vor Orten wie Friedhöfen, Gedenkstätten oder Holocaust-Museen macht das Spiel keinen Halt. Völlig unangemessen, taktlos und deplatziert.  Das „Ich streife durch das ganze Land“ aus dem Theme-Song wurde ein bisschen zu ernst genommen.

Nackenschmerzen

Klar habe ich als bekennender Pokémonfan und Nostalgiker überlegt, mir das „Spiel des Jahres“ herunterzuladen. Aber irgendwann kommt die Zeit, in der ich auch an meine Gesundheit denken muss. Denn Mediziner*innen, insbesondere Chirurg*innen, warnen davor: Nackenschmerzen! Ständig laufend, nach unten aufs Smartphone schauend, erscheint also nicht nur mir ziemlich gesundheitsschädlich. Halswirbelsäulen-Verkrümmung, ja sogar ein Bandscheibenschaden kann durch die ganze Zockerei mit dem Smartphone entstehen. Und wenn das nicht schon genug ist, soll ich mir jetzt auch noch Blasen an den Füßen laufen, um meine Lieblingspokémon zu fangen? Nennt mich faul, aber Spiele wie diese gehören zusammen mit mir auf die Couch. Oder bei gutem Wetter in den Garten. Sitzend, liegend, hängend. Nur bitte nicht laufend. Das passt nicht zusammen.

Neben der Gefahr des körperlichen Zerfalls, besteht noch ein weiteres großes Problem. Diebesbanden suchen bereits die Hotspots des Spiels auf, um die Taschen der Zocker*innen leer zu räumen. Und da Spieler*innen diese Hotspots selbst setzen können, haben auch die Langfinger die Möglichkeit, genau dort auf die Massen zu lauern. Ob mir das der Fang eines Karpadors wert ist?  Und vor Privatsphäre, Eigentum und Grundstück machen diese Gestalten sicherlich auch keinen Halt.

Blasen an den Füßen, Beule auf der Stirn, Verspannung im Nacken. So sehr mein Kinderherz in mir blutet und mein Vergangenheits-Ich mir am liebsten einen Tritt sonst wohin verpassen würde, spare ich mir meinen Smartphone-Akku und werde auf Pokémon Go verzichten. Verzeih mir, Pikachu…

das-duell-feederFoto: stockxchng/bizior, S. Hofschlaeger/pixelio.de, Montage: Brinkmann/Schweigmann 
Teaserfoto: danielvalle5/flickr.com unter Creative Commons 2.0

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