FÖJ: Ein Jahr und Meer

Der Wind weht eisig in den letzten kalten Februartagen auf Sylt. Doch die junge Frau schreitet tatkräftig voran. Über die Düne, hin zum Strand, zum endlosen Meer. Salz liegt in der Luft, Möwen meckern von oben herab. Die junge Frau führt eine kleine Gruppe interessierter Besucher zum Strand bei Hörnum, ganz im Süden der Nordsee-Insel. Dort will sie den Leuten erzählen, warum Sylt besonders an dieser Stelle schrumpft. Die junge Frau heißt Anna. Und Anna weiß, wovon sie spricht. Denn sie verbringt ein Freiwilliges Ökologisches Jahr (FÖJ) in der Hörnumer Schutzstation Wattenmeer.

Foto: Marc Miertzschke

Direkt nach dem Abi ging es auf die Insel - für Anna die Erfüllung eines großen Traums. Foto: Marc Miertzschke

In ihrer Arbeitskleidung, dem blauen Fleece-Pullover mit aufgesticktem Logo, gibt sie die Richtung vor. Die langen, lockigen Haare hat sie mit einer Strickmütze gekrönt, unter dem Arm klemmt ein abgegriffener Leitz-Aktenordner. Das Laufen auf dem feuchten Sand ist beschwerlich. Die Gruppe kommt nur langsam voran. Anna hat Zeit zu erzählen, wie sie aus ihrer Heimat, der Oberpfalz im Osten Bayerns, an die Nordsee kam. Sie wollte nicht gleich studieren, suchte nach einer Denkpause, dachte auch an „Work and Travel“ im Ausland. „Dabei bin ich eher zufällig auf das FÖJ im Wattenmeer gestoßen“, erzählt die 19-Jährige, „doch es war eine bewusste Entscheidung.“ Das Zwischenjahr vor dem Studium passte perfekt, am 1. Juli feierte Anna ihre Abiturentlassung. Zwei Tage später war sie auf Sylt.

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Sylt ist ein reiches Biotop für Tiere und Pflanzen - das unscheinbare Dünengras hält mit seinem Wurzelwerk die Sanddünen zusammen. Foto: Marc Miertzschke

Dort erklärt sie nun der Gruppe, wie die Insel entstanden ist und warum das Wattenmeer als Ökosystem so schützenswert ist. Anna wollte gerne nach Hörnum, dass hatte sie bei ihrer Bewerbung angegeben. Entschlossen kam sie zum Vorstellungsgespräch auf die Insel, das damalige Stations-Team entschied über die Nachfolger. Bis zu 15 Bewerber gab es auf diese Stelle, Anna konnte überzeugen. Nun lebt und arbeitet sie zusammen mit weiteren FÖJlern und Mitarbeitern des Bundesfreiwilligendienstes 13 Monate auf der Insel. Mit Naturschutz hatte sie zuvor noch nichts zu tun, doch ganz fremd war ihr der Umgang mit Flora und Fauna nicht. „Ich komme aus einem echt kleinen Dorf, da spielen die Kinder im Wald und auf den Wiesen, da ist man noch naturverbunden“. Wenn das Jahr auf Sylt vorüber ist, möchte Anna Tiermedizin studieren.

Erfahrungen für das Leben

Die Kompetenzen, die sie auf der Insel erwirbt, werden dabei helfen, meint sie. „Ein FÖJ verändert jeden“, sagt Anna, „man macht Sachen, die man sonst nicht machen würde.“ Gleich zu Beginn ihres Einsatzes im Sommer musste sie auf einem Schiff vor 200 Leuten sprechen. „Man lernt sich selbst kennen, wird selbstbewusster.“ Das Fachwissen erhalten die FÖJler durch die Begleitung ihrer Vorgänger, durch ausgearbeitete Konzepte und ergänzende Seminare. Die Praxis kommt dabei nicht zu kurz: „Wir haben auch gelernt, wie man schwerverletzte Vögel von ihren Leiden erlöst.“ Das Tier wird nach einer Betäubung totgeknüppelt oder geköpft. „Das musste ich zum Glück noch nicht machen. Aber ich würde mich auch nicht davor drücken“, meint Anna selbstbewusst.

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Anna erklärt, wie die Strömung an der Insel nagt. Mit Millioneninvestitionen in Sandaufspülungen soll das Schrumpfen Sylts verhindert werden. Foto: Marc Miertzschke

Kurz vor der Südspitze erklärt Anna der Gruppe, warum die Naturgewalten vor allem hier an der Insel nagen, wie man es aufzuhalten versucht und warum es doch nur wenig hilft. Während ihres Vortrags enthüllt sie auch das Geheimnis des Leitz-Ordners: Mit Karten, Diagrammen und alten Aufnahmen von Sylt unterstützt sie ihre Ausführungen. Im Winter haben die Stürme an dieser Stelle wieder große Sandverluste verursacht. Anna hat die Stürme miterlebt: „Das ist echt gigantisch.“ Tonnenschwere Beton-Tetrapoden konnten die Kraft der Wellen nicht aufhalten. Schon länger versucht man daher, mit millionenteuren Sandaufspülungen den Untergang der Insel aufzuhalten. „Das ist auch wichtig, denn die Insel Sylt schützt mit ihrer Lage die gesamte nordfriesische Küste“, erklärt Anna.

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Sie sollten Sylt vor dem Untergang bewahren, doch sie versinken selbst in den Fluten - tonnenschwere Beton-Tetrapoden, aufgestapelt, um die Kraft der Wellen zu brechen. Foto: Marc Miertzschke

Nach der Umrundung der Sylter Südspitze geht die Führung zu Ende. Annas aufschlussreiche Ausführungen und ihre aufgeschlossene Art haben Eindruck gemacht. Viele Scheine wandern in die Spendenbüchse für die Schutzstation Wattenmeer. Mit dem Geld wird die Naturschutzarbeit unterstützt. Führungen dieser Art sind für Anna fast Alltag geworden. Als FÖJler auf Sylt muss sie aber auch Tierzählungen, Wattkartierungen und Kontrollgänge vornehmen. Beim Spülsaum-Monitoring untersucht Anna das angespülte Strandgut. „Einmal hab ich dutzende Marken-Sportschuhe, Größe 37, gefunden – aber nur die linken“, erzählt sie schmunzelnd.

Sommerliche Partys am Strand und ein ganz bisschen Arbeit

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Die Nachbarn stört es nicht, wenn abends einmal ein bisschen lauter gefeiert wird. In der Hörnumer Schutzstation Wattenmeer sind die Freiwilligen unter sich. Foto: Marc Miertzschke

Der erste Teil des Tagesprogramms ist für Anna geschafft. Nun hat sie ein wenig Zeit, um durchzuatmen. Anna stapft zurück in die Schutzstation, ein rotes Holzhaus, das nicht weit vom Strand geduckt in den Dünen liegt. Direkte Nachbarn gibt es keine. Die FÖJler teilen sich ihren engen Wohnraum mit einer kleinen Wattenmeer-Ausstellung. Man merkt schnell, dass hier junge Menschen zusammen leben. Kreatives Chaos herrscht vor, besonders in der Küche. Dort warten Stapel von benutztem Geschirr auf die Spüle.

Anna belegt sich eine Brotscheibe, der Imbiss muss zum Mittag reichen. Sie fühlt sich hier wohl. „Ich bin voll zufrieden. Wir verstehen uns sehr gut und das Zusammenleben funktioniert“, sagt sie über ihre Mitbewohner, „wir müssen ja auch die Station zusammen schmeißen.“ Unzählige Fotos und Erinnerungen an der Wand zeugen von Generationen von jungen Menschen, die sich für die Natur einsetzten und gemeinsam ihre Zeit hier verbracht haben. Sommerliche Impressionen mit lachenden Gesichtern. Die Freiwilligen feiern gern zusammen und wenn es warm ist, wird auch mal am Strand übernachtet. „Hier merkt man fast gar nicht, dass man arbeitet“, meint Anna. 38 Stunden in der Woche muss sie ihren Job erledigen, die Zeit dafür kann sie sich frei einteilen. Als Belohnung gibt es ein kleines Taschengeld. „Ist nicht viel, aber es reicht aus“, meint Anna.

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Geordnetes Chaos herrscht in der Küche. Generationen von Freiwilligen haben hier schon zusammen getafelt. Foto: Marc Miertzschke

Naturschutz bedeutet auch: den Tieren Leid zu ersparen

Irgendwo auf dem Tisch klingelt das Telefon, Anna muss kurz suchen. Am Apparat ist ein aufmerksamer Strandspaziergänger, der einen kleinen Seehund gefunden hat. Freundlich und gekonnt entlockt Anna dem Finder die nötigen Informationen. Das Tier scheint nicht verletzt oder krank zu sein, Anna wird die Sichtung an den Seehundjäger der Insel melden. „Meistens müssen wir aber auch selbst raus, uns das Tier anschauen und eventuell bei ihm Wache halten.“ Dann errichten sie eine sogenannte flexible Schutzzone und leiten die Strandbesucher um das Tier herum. Wenn der Seehund krank aussieht, rufen sie den Seehundjäger. Hin und wieder muss der zum letzten Mittel greifen und das Tier erschießen. „Das erspart dem Tier viel Leid,“ sagt Anna. Sie klingt sehr überzeugt.

Nach der kurzen Stärkung zieht sich Anna noch wärmere Kleidung an. Dann geht es weiter: Vogelzählung auf der Ost-Seite der Insel, in der Nähe von Keitum. Mit dem Bus und dem Fahrrad geht es zum Deich. Alle 500 Meter steigt sie vom Rad herunter, dann den Deich hinauf. Im Gepäck hat Anna ein Spektiv, ein Handzählgerät, Stift und Block. Damit muss sie den Vogelbestand erfassen.

Ein Deich ist noch lange kein bayerischer Berg

Der Wind weht stark dort oben, Menschen vom Festland haben mit der steifen Brise zu kämpfen. Anna ist Wetter und Witterung mittlerweile gewohnt, ungerührt schaut sie durch das Fernrohr und drückt auf den Zähler. „Ich hätte nie gedacht, dass ich mal stundenlang auf dem Deich hocke und Vögel zähle.“ Der Wind verschluckt fast ihre Worte.

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Weiter Blick über flaches Land - vom Deich aus lassen sich Graugänse und andere Rastvögel beobachten. Foto: Marc Miertzschke

Der Bayerin gefällt es hoch im Norden. Vor allem der frühe Sommer hat es ihr angetan: „Dann ist die Natur voller Leben, alles ist grün und auch im Watt ist viel los“. In ihrer Funktion als Gebietsbetreuerin darf sie Bereiche der Insel betreten, die für andere Besucher tabu sind. Sie schätzt das Privileg und genießt es. Doch auch nach einiger Zeit auf der Insel bleibt die bayerische Heimat in bester Erinnerung. Dauerhaft im Norden zu leben kann sich Anna kaum vorstellen: „Ich brauche einfach die Berge.“ Traurig wird sie dennoch sein, wenn das FÖJ im Juli vorüber ist. Sie wirft einen letzten Blick durch das Fernrohr und trägt die Anzahl der Graugänse in ihren Block ein. Dann steigt Anna wieder auf ihr Rad und fährt den Deich entlang.

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