Erinnerung an Auschwitz

Ein Beitrag von Lara Eckstein

Die Schienen führen durch einen gemauerten Torbogen, einige hundert Meter geradeaus, dann enden sie. Auschwitz-Birkenau ist eine Endstation. In dem Vernichtungslager starben zwischen 1942 und 1945 mehr als eine Million Menschen. Zdzislawa Wlodarczyk aber hat überlebt. Heute zeigt sie Studenten das Lager. Den Weg kennt die 78-Jährige auswendig. Vor einem niedrigen Gebäude, Block 16, bleibt sie stehen: „Hier ist die Kinderbaracke.“

Mit acht Jahren kam Wlodarczyk nach Auschwitz. Auch heute, 70 Jahre später, erinnert sie sich noch genau: An die Mutter, die nackt vor den Wachen steht, ausgelacht und beschimpft wird. An die SS-Männer, die einem Gefangenen ein Holzbrett auf den Hals legen und sich darauf wippen. Und an den Geruch von verbranntem Menschenfleisch aus dem Krematorium.

Erinnerung als Verantwortung

Zeitzeugin Zdzislawa Wlodarczyk kämpft gegen das Vergessen. Fotos: Lara Eckstein

Zeitzeugin Zdzislawa Wlodarczyk kämpft gegen das Vergessen. Fotos: Lara Eckstein

Wlodarczyk erzählt immer wieder, was sie erlebt hat: „Es ist wichtig, dass junge Menschen den Schrecken von Auschwitz verstehen“, sagt sie. Für eine Generation, die keinen Hunger kennt und keinen Krieg, kann das schwierig sein. Die Ereignisse liegen jedes Jahr weiter zurück. Neue, schreckliche Dinge passieren. Die Erinnerung an Auschwitz verblasst. Und Zeitzeugen wie Zdzislawa Wlodarczyk wird es nicht mehr lange geben. 70 Jahre nach der Errichtung der Vernichtungslager sind viele Holocaust-Überlebende bereits gestorben. Wie soll für zukünftige Generationen die Erinnerung überleben an Dinge, die unvorstellbar scheinen?

Das Museum Auschwitz ist zum symbolischen Ort des Leids geworden. Hundertausende Menschen kommen jedes Jahr in die Gedenkstätte. Sie laufen zwischen den Baracken entlang, betrachten die Fotos ausgemergelter Menschenkörper und die Berge von Koffern, Schuhen, Menschenhaaren. Dann ziehen sie für vier Zloty einen Cappuccino aus dem Automaten, steigen in den Reisebus und fahren zurück nach Krakau, Warschau, Berlin.

Die Gefangenen auf den Fotos bleiben Fremde. Die Verließe, der Erschießungsplatz und das Krematorium hinterlassen nur ein dumpfes Gefühl des Schreckens. Was hier wirklich geschah, können nur die erzählen, die es überlebt haben.

„Kein Buch, kein Film und keine Ausstellung kann die persönliche Begegnung ersetzen“, sagt Wolfgang Gerstner vom Maximilian-Kolbe-Werk. Der Verein kümmert sich um Holocaust-Überlebende, organisiert Begegnung mit Schülern und Studenten. Gemeinsam nehmen die Jungen und die Alten auch an der Gedenkfeier zur Befreiung von Auschwitz im Januar 1945 teil. Hier, vor den Überresten des Krematoriums, ist die Erinnerung noch lebendig.

Erinnerung als politisches Interesse

Bei der offiziellen Gedenkfeier im Kulturzentrum von Oswiecim, dem ehemaligen Auschwitz, sind neben dem Bürgermeister auch sämtliche Botschafter anwesend. Hier geht es nicht um die Opfer von Auschwitz. Stattdessen zeigt sich, wie Erinnerung zum politischen Interesse werden kann. „Es gibt Menschen, die ernsthaft bedauern, dass ihr Land sich nicht öffentlich gegen die Sowjetunion gestellt hat“, schimpft der russische Botschafter. „Manche Holocaust-Leugner sind sogar Staatsoberhäupter“, brüllt der israelische Botschafter ins Mikrofon. Wlodarczyk und die anderen Zeitzeugen sitzen im Publikum. Sie sind in der Unterzahl. Vor sieben Jahren kamen noch 1500 ehemalige Häftlinge. Heute sind es rund 90. Die Erinnerung wird schwächer, langsam stirbt sie aus.

Die Erinnerung an den Ort des Grauens droht zu verblassen.

Die Erinnerung an den Ort des Grauens droht zu verblassen.

„Ich kann nur meine Geschichte erzählen“, sagt Zdzislawa Wlodarczyk in der Baracke Nummer 16, der Kinderbaracke von Auschwitz-Birkenau. „Aber ich spreche stellvertretend für alle, die hier gelitten haben.“ Und dann erzählt sie, erzählt, bis es dunkel wird. Die Studenten hören zu, stellen Fragen, vergessen die Zeit. „Das, was hier passiert ist, hätte mir keine Touristenführung vermitteln können“, sagt die Dortmunder Studentin Ann-Kristin Schäfer. Es beginnt zu schneien. Die Wachtürme, die Schienen und der Stacheldraht verschwinden unter einer Decke aus Weiß. Über das Vernichtungslager senkt sich eine friedliche Stille – eine Stille des Vergessens. Noch kommt die Stimme von Zdzislawa Wlodarczyk dagegen an. Schon bald aber muss die junge Generation diese Stille alleine brechen.

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