Alte Tradition neu: Charakterfasten

Die Tradition des Fastens ist so alt wie die Religionen selbst. Egal ob im Christentum, Islam, Buddhismus oder in alten indianischen Religionen: Fastenrituale gibt es überall. In unserer heutigen Kultur spielt Fasten kaum noch eine Rolle. Und wenn, dann in abgewandelter Form. Zwei unserer Autoren probieren aus, wie es ist, sieben Wochen auf eine Charaktereigenschaft zu verzichten. Lügen und Gemecker gehören zu unserem Alltag – doch was passiert, wenn wir versuchen, diese negativen Angewohnheiten einmal abzulegen? Wird die Fastenzeit uns nachhaltig verändern können?

Viele Religionen kennen Fastenzeiten, die meist auch der spirituellen Reinigung dienen. In den sieben Wochen zwischen Karneval und Ostern gibt es bei streng gläubigen Christen kein Fleisch, manche verzichten sogar auf jede Form von Genuss – einige sogar ganz auf (feste) Nahrung. Diese Zeit ist für die Besinnung auf das Wesentliche, als Zeit für Glauben und Glaubensfragen gedacht. Juden fasten bei Jom Kippur, dem Versöhnungstag. Hindus und Buddhisten fasten, Mahatma Gandhi machte aus dem Fasten sogar eine Form des Widerstands gegen die englischen Besatzer.

Wo Fasten zum Alltag gehört

Im Islam wird während des Fastenmonats Ramadan gefastet. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang essen und trinken gläubige Muslime nichts, viele verzichten den ganzen Monat auf Sex und Zigaretten. Für viele ist der Ramadan eine Zeit, in der sie strenger zu sich sind und ihren Glauben und seine Regeln ernster nehmen. Auch viele sonst moderate Muslime hören in dieser Zeit zum Beispiel damit auf, Alkohol zu trinken. In der muslimischen Welt ist der Ramadan eine besondere Zeit: Viele Familien stehen früher auf, um gemeinsam zu frühstücken, bis der Muezzin zum ersten Gebet des Tages ruft. Das öffentliche Leben steht während des Tages fast still. Die Straßen sind ruhiger als sonst, Restaurants und Schulmensen  bleiben geschlossen. In vielen Ländern steht es sogar unter Strafe, in der Öffentlichkeit zu essen oder zu trinken. Sobald die Sonne untergegangen ist, erwacht die Stadt wieder und Familien besuchen sich. Das Ende des Fastenmonats ist das Zuckerfest, bei dem die gesamte Verwandtschaft zusammen feiert und schlemmt. Die Kinder werden mit Geschenken überhäuft.

Ganz anders in Europa: Hier spielt die Fastenzeit kaum noch eine Rolle. Geblieben ist vielerorts nur das Ritual vor dem Fasten: der Karneval. Früher war die fünfte Jahreszeit die letzte Möglichkeit, es sich noch einmal richtig gut gehen zu lassen, bevor die kargen Wochen des Fastens begannen. Bis heute stellen die Narren das öffentliche Leben auf den Kopf – die darauf folgende Fastenzeit und Ostern als Fest an ihrem Ende gehen an den meisten jedoch fast unbemerkt vorüber.

Christliches Fasten heute: Zeit zur Reflexion

Trotzdem wird heute auch in Europa noch gefastet – wenn auch meist nicht im traditionellen Sinn. Statt auf Fleisch oder jede feste Nahrung verzichten viele auf Koffein, ungesundes Essen, Zigaretten oder Alkohol. Aus der Zeit für Glaubensfragen ist eine Zeit der Reflexion geworden: Was habe ich für Gewohnheiten, was funktioniert an meinem Leben, was kann und was will ich ändern?

Dabei ergeben sich auch neue Spielweisen: Statt Verzicht gibt es “Positiv-Fasten”, also den Versuch, jeden Tag aktiv etwas umzusetzen, so ähnlich wie bei einem Neujahrsvorsatz. Oder es gibt die Option des “Charakterfastens.” Hierbei soll eine Eigenschaft in den 40 Tagen möglichst bewusst beobachtet werden, eine negative Angewohnheit sollte dadurch mehr und mehr in den Hintergrund treten oder vielleicht sogar verschwinden. Natürlich funktioniert auch beim “Charakterfasten” die positive Variante: Möglichst gütig zu sein, anderen besonders gut zuzuhören oder besonders fleißig zu sein, kann auch das Ziel sein.

Selbstversuch: frei von negativer Energie

Feuerspucken vor Wut? Erst einmal nicht mehr. Fotomontage: Lia Rodehorst

Ich bin Lia. In meiner Familie hat fast jedes Jahr jemand gefastet, also habe ich das schon als Kind ausprobiert und bin sehr kläglich daran gescheitert, keine Süßigkeiten zu essen. Anders wurde es, als ich von zu Hause ausgezogen bin. 2013 verzichtete ich in der Fastenzeit auf tierische Produkte, seitdem bin ich Veganerin. Vor zwei Jahren habe ich während der Fastenzeit keine Videos, Filme oder Serien geschaut – so viel Zeit hatte ich noch nie fürs Lernen. Ich fühle mich also gut dafür gewappnet, in diesem Jahr die 40 Tage vor Ostern ohne Meckern zu verbringen, auch wenn ich zum ersten Mal „charakterfaste“.

Konkret bedeutet das: Ich darf nicht meckern, nicht motzen und nicht jammern. Ich darf mich aber beschweren – wenn ich es auf konstruktive Weise tue. Das bedeutet: Ich muss mindestens ein gutes Argument haben, eine Lösung aufzeigen – oder zumindest etwas Positives an der ganzen Geschichte finden. Ob ich das schaffe, ohne auf die Arbeit am PC oder auf das Bahnfahren zu verzichten, wird sich zeigen.

Selbstversuch: 100% Wahrheit

Keine Konkurrenz für Pinocchio: Die nächsten sieben Wochen wird die Nase von Christian Burg ihre Größe behalten. Fotomontage: Lia Rodehorst

 

Ich bin Christian, ich bin 22 Jahre alt und werde versuchen in den nächsten sieben Wochen nicht zu lügen. In den Wochen vor Beginn dieses Versuches ist mir aufgefallen, dass ich nicht so oft lüge, wie ich gedacht hatte. Trotzdem schleichen sich besonders kleine Lügen immer wieder ein . Darin wird wahrscheinlich auch meine größte Herausforderung bestehen: diese kleinen Lügen zu erkennen, bevor sie ausgesprochen sind. Viele werden verwirrt sein, warum ich so lange brauche, um eine Frage zu beantworten. Es wird wahrscheinlich eine Zeit dauern bis ich mich daran gewöhnt habe.

Mir ist bewusst, dass dieser Versuch ein Extrembeispiel sein wird und Lügen zur menschlichen Kommunikation dazugehört. Am Ende habe ich aber vielleicht eine andere Sichtweise darauf und werde mich in Zukunft zurückhalten und meine Lügerei auf die wichtigsten Fälle beschränken.

 

Kleine und große Schummeleien

Die wöchentliche Jokerkarte unserer Autoren. Bild: Pflichtlektüre

Wie das Fasten selbst hat auch das Schummeln beim Fasten eine lange Tradition: Die Schwaben erfanden die Maultaschen (die im Schwäbischen nicht ohne Grund “Hergottsbescheißerle” heißen), weil sie sich sicher waren, dass Gott das Fleisch in den Teigtaschen nicht sehen könne. Mönche deklarierten den Biber zum Fisch, weil der Dammbauer im Wasser lebt und gar kein Fleisch sein konnte. Er durfte so auch während der Fastenzeit auf der Speisekarte bleiben.

Also ist es nur fair, wenn auch unsere Autoren ab und zu beim Einhalten ihrer guten Vorsätze scheitern dürfen. Da sich Lügen und Gemecker nicht in Teig hüllen lassen, bekommen die beiden pro Woche eine Jokerkarte. Sie erlaubt ihnen sechs kleine oder große Fehltritte pro Woche.

 

Jede Woche berichten die beiden Autoren von nun an immer abwechselnd jeden Mittwoch, wie es ihnen ergangen ist.

 

Beitragsbild: Lia Rodehorst, Collage mit Canva.com

Fotomontagen: Lia Rodehorst unter Verwendung von pixabay.com, lizenziert nach Creative Commons 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert