Sie füllen die Regale rechtschaffener Bürger, sie bringen die dunklen Seiten der Menschheit in unsere Wohn- und Schlafzimmer und sie gehen so oft über die Theken der Buchhandlungen wie keine anderen Wälzer: Kriminalromane, das Buchgenre hinter dem Tatort und Criminal Minds, der Geschichten um Miss Marple und Sherlock Holmes, um Kurt Wallander und Commissario Brunetti. Es ist uralt und doch erfolgreicher denn je. Aber woher kommt dieser Krimi-Boom? Was macht Krimis so besonders und warum lesen wir so gerne vom Verbrechen und seiner Bekämpfung?
Fall eröffnet: Es geht auf Spurensuche nach den Ursachen der Mordlust. Es geht an die Orte des Geschehens, dahin, wo Menschen tagtäglich ihr Geld mit Morden verdienen – fiktiven Morden, versteht sich. Der erste Tatort befindet in der Dortmunder Innenstadt. Nahe dem Stadtgarten liegt in einem kleinen, unauffälligen Gässchen hinter einer Glasscheibe ein Großraumbüro. Drei Schreibtische mit Papierstapeln darauf, Bücher in den Regalen an den Wänden, viele schwarze Bände darunter. Hier liegt quasi die Geburtsstätte des deutschen Regionalkrimis: Der Dortmunder Grafit-Verlag gibt seit seiner Gründung 1989 Kriminalromane heraus, seit 1999 sogar ausschließlich.

Der Eingang zum ersten Tatort: Dem Dortmunder Grafit-Verlag
Der literarische Mord wird salonfähig
„Als wir damals anfingen, galten Krimis noch als Schundliteratur“, erzählt Gudrun Stegemann, Lektorin und Pressesprecherin des Verlags im Hinterzimmer des Großraumbüros, dem Tatort ihrer täglichen Arbeit. Damals sei der deutsche Krimi – anders als heute – ein noch nicht berücksichtigtes Genre gewesen. Viele Leser haben sich nicht dazu bekannt, Fans dieser Gattung zu sein. Bei Verlagen war die Situation ähnlich: „Wir waren fast die Einzigen, die das Wort ‚Krimi‘ auf unsere Bücher geschrieben haben.“
Bei bekannten Persönlichkeiten dagegen hat eine Liebe zur Kriminalliteratur fast Tradition. Lincoln und Schopenhauer, Bismarck und Adenauer lasen gerne Krimis. Bertolt Brecht dienten sie als Inspiration für seine Werke. Und US-Präsident Roosevelt befasste sich so intensiv mit seinem Lieblingsgenre, dass er, als ihm eine Kriminalgeschichte ohne Auflösung in den Kopf kam, dieses Verbrechen von Fachmännern aufklären ließen. Mehrere Krimiautoren machten sich an die Arbeit, des Rätsels Lösung zu finden, Kapitel um Kapitel schrieb ein anderer, bis der Täter überführt war. 1935 erschien der Roman „The President’s Mystery Story. Plot by Franklin D. Roosevelt“.
Der klassische Ermittler: Welche Figuren der Kriminalliteratur haben unser heutiges Bild von Ermittlern am meisten geprägt? Wer trug einen Trenchcoat und wer trank am liebsten Tee? Zeichnung: Johanna Freytag
Mord in der Nachbarschaft: Der Erfolg der Regionalkrimis
Und wenn Präsidenten, Kanzler und Philosophen nicht genug von diesen damals zum Teil als „Schundliteratur“ abgestempelten Geschichten bekommen können, dann erstaunt es wohl kaum, dass es vielen anderen Menschen bis heute ähnlich geht. Doch was fasziniert sie alle an Mördern und Verbrechern, an bösen Buben und dem Brechen des fünften der Zehn Gebote? „Ich glaube, das hat schon viel mit Eskapismus und Voyeurismus zu tun“, sagt Stegemann. Wir lesen von etwas Bösem mit dem Gedanken: „Mir kann das aber nicht passieren.“
Aber wenn es darum geht, dann wirkt der Erfolg von Regionalkrimis doch ein wenig skurril. Warum wollen wir das fiktive Verbrechen denn direkt vor der Haustür, auf dem Weg zum Bäcker oder Friseur haben? Spätestens seit der Jahrtausendwende sind Regionalkrimis allerdings auffallend erfolgreich in Deutschland. Der Trend kommt aus Schweden. Laut Stegemann waren die schwedischen Autoren die ersten, die in den 70er Jahren „die schmutzigen Ecken vor der Haustür gezeigt haben“. Der Begriff ‚Regionalkrimi‘ sei allerdings auch immer schwierig zu definieren: „Jede Geschichte muss immerhin irgendwo spielen“, grinst die Lektorin. Bei guten Regionalkrimis ginge es vor allem darum, dass die Leser einen Wiedererkennungswert hätten, dass klar würde, wie die Menschen in dieser Region ticken. Der Erfolg dieses Genres sei vor allem über diesen Effekt sowie ein aufkommendes Heimatgefühl in den 90er Jahren zu erklären. Was man kennt, damit identifiziert man sich. Und natürlich schreibt auch jeder Autor über das, was er kennt, am besten.
Es war: Die Autorin. Mit dem Laptop. Im Arbeitszimmer.
Tatort Zwei. Es ist ein Ort, der auf den ersten Blick einer der letzten in Deutschland ist, die man mit Morden assoziieren würde: die Nordseeinsel Amrum. Urlaubsort mit weißem Sandstrand, schnuckeligen Cafés, mit malerischem, kleinem Leuchtturm und bunten Strandkörben zwischen Meer und Dünen. Zwei Jahre hat Autorin Ilka Dick hier gelebt. Aber mit ihrem Krimi Endstation Nordsee hat sie den blutigen Mord in diese Idylle geschrieben. „Die Insel war wichtig für die Geschichte, weil sie wunderbar in diesem Mikrokosmos erzählt werden kann“, sagt Dick. Inseln hätten auf der einen Seite eine sehr starke Enge, weil nur so wenige Bewohner dort lebten, auf der anderen Seite aber auch eine unfassbare landschaftliche Weite. Durch ebendiese Weite habe die Nordsee auch etwas sehr Bedrohliches und biete mehr als nur „Strandkorb, Sonne, alles schön“.
Was Dick am Krimi interessiert: das Miträtseln, das Rauskriegen am Ende, die Spannung. Aber sie sieht vor allem „die Faszination an dem Bösen oder Schwierigen, was hinter der Fassade eines jeden Menschen steckt“ als Grund für die Beliebtheit der Angstmacher. Das erste, was sie als Krimiautorin von einer Geschichte im Kopf habe, seien das Motiv und die Tat. „Ein typischer Krimi ist die Geschichte eines Mordes. Deswegen ist er auch darauf festgelegt“, sagt sie. Im Gegensatz zu anderen Genres sei der Plot bei Kriminalromanen bereits ein bisschen vorgegeben. Er müsse einer bestimmten Logik folgen, falsche Fährten legen und das Motiv, die Geschichte, warum der Täter die Tat begangen hat, erklären. „Die Geschichte an sich, die steht von Anfang an.“
Krimi – die Mausefalle für die Leserschaft
Aber natürlich sind Krimis auch mehr als das. Krimis beschäftigen sich schon lange nicht mehr nur noch mit Mord und Totschlag oder dem Überführen von Verbrechern. Krimis seien gut, um bestimmte Themen auf den Tisch zu bringen, sagt Dick. Themen zu verpacken, mit denen sich der Leser vielleicht vorher nicht auseinandergesetzt hat, nun aber durch die spannende Handlung abgelenkt, in die Mausefalle tappt und sich dann damit konfrontiert sieht. „In meinem Buch sind diese Themen ein bisschen Trauer und Verlust“, so die Autorin. So beginnt ihr Roman im Gegensatz zu den meisten Krimis mit einer alten Frau, die von einer jüngeren Frau begleitet in einem Hospiz einen natürlichen Tod stirbt. Diese Szene sollte zum einen berühren, zum anderen aber auch Spannung schaffen: Wer ist die sterbende Frau? Wer ist da bei ihr ist, während sie stirbt?
Um gute Spannung über einen ganzen Roman aufrechtzuerhalten, müsse man immer den großen Spannungsbogen im Kopf behalten, die Geschichte des Mordes und sie bis zum „Knall im Finale, der es am Ende noch mal spannender macht“ durchziehen, erklärt Dick. Im Hauptteil könne man spielen, viel mit Andeutungen arbeiten, einer zweiten Leiche die auftauche, Cliffhanger, Zeitsprüngen oder Rückblenden. „Wichtig ist, dass man am Ende merkt, wie die Fäden zusammengefügt werden“, so Dick.
Wenn wir nun die Fäden unserer Ermittlungen zusammenfügen, so ergibt sich ein Genre, das sowohl als Schundliteratur verschrien, wie von Millionen (manchmal heimlich) geliebt wurde und heute das vielleicht erfolgreichste Buchgenre Deutschlands ist. Doch auch außerhalb der Buchrücken hat die Mordlust Einzug gehalten in unserem Leben: Krimidinner feiern Erfolge, bei den sonntagabendlichen Tatorten rätseln bis zu 15 Millionen Zuschauer mit und auch das reale Verbrechen fasziniert immer mehr, wie die Beliebtheit von neuen Zeitschriften, die wie Stern Crime nur von Kriminalfällen berichten, beweist. Ein bisschen Voyeurismus, ein bisschen Eskapismus, ein bisschen Mord und Totschlag. Krimis sind heute aus den Bücherregalen nicht mehr wegzudenken.
Fotos: Lisa Oppermann