MS – die Krankheit mit den tausend Gesichtern

Die Multiple Sklerose ist eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen. Wie sie verläuft, ist bei jedem Betroffenen unterschiedlich und lässt sich nicht vorhersagen. Dabei können, müssen aber nicht schwere Behinderungen und ein Leben im Rollstuhl die Folge sein. Gerade die Ungewissheit über den Krankheitsverlauf ist für viele Patienten mit Multipler Sklerose schwierig. Aber es geht auch anders. Man darf sich nur nicht unterkriegen lassen.

Zunächst dachte Paulina (Name geändert) sich nichts dabei, als sie sich fiebrig fühlte und ihr Bein beim Aufstehen kurz versagte. Erst nach drei Tagen, als fast die komplette linke Körperhälfte nach und nach taub geworden war, humpelte sie ins Krankenhaus. Die Diagnose war für sie wenig überraschend. „Es war komisch“, erinnert sie sich. „Ich war drei Tage lang für verschiedene Tests im Krankenhaus. Schon als der Arzt am ersten Tag aufgezählt hat, was es alles sein könnte und Multiple Sklerose darunter war, wusste ich irgendwie intuitiv: Das ist es.“ Das war vor fast zwei Jahren, im Juni 2011. Seitdem lebt Paulina mit der bisher unheilbaren Krankheit – und kommt gut damit klar.

Nicht mehr spritzen! Paulinas Tabletten sind noch ganz neu. Foto: Sara Hegewald / pixelio.de. Teaserbild: Martin Berk / pixelio.de

Nicht mehr spritzen! Paulinas Tabletten sind noch ganz neu. Foto: Sara Hegewald / pixelio.de. Teaserbild: Martin Berk / pixelio.de

Die 21-Jährige ist eine von 100.000 bis 130.000 Menschen mit Multipler Sklerose (MS) in Deutschland. Zwei bis dreimal so viele Frauen wie Männer erkranken meist im Alter zwischen 20 und 40 Jahren aus unbekannten Ursachen. Bei der chronischen Erkrankung entstehen Entzündungen im zentralen Nervensystem. Da dieses viele verschiedene Körperfunktionen steuert, sind die Symptome und Krankheitsverläufe sehr unterschiedlich. So wird die MS auch die „Krankheit mit den tausend Gesichtern“ genannt. Häufige Symptome sind beispielsweise Sehstörungen, abnormale Müdigkeit, Taubheitsgefühle und motorische Störungen. Das kann, muss aber nicht zu schweren Behinderungen führen.

Grundsätzlich werden zwei Arten der MS unterschieden. Bei etwa 70 Prozent der Betroffenen verläuft die Krankheit wie in Paulinas Fall schubförmig. Anders als bei dem chronisch progredienten Verlauf schreitet die Krankheit hier nicht ständig fort, sondern äußert sich in sogenannten Schüben. Dabei entstehen im zentralen Nervensystem Plaques, entzündliche MS-Herde, oder bestehende werden reaktiviert: Die Symptome verschlimmern sich akut. Die Beschwerden können sich über mehrere Wochen bis Monate vollständig zurückbilden, was aber nicht immer der Fall ist. Je nachdem, ob sich die angegriffenen Stellen im zentralen Nervensystem regenerieren oder vernarben, bleiben Beeinträchtigungen zurück.

Eine Krankheit, mit der man leben kann

Viel schöner als die Originalverpackung - Paulina bewahrt die Tabletten in einer geblümten Porzellandöschen auf. Foto: Nanna Zimmermann

Viel schöner als die Originalverpackung - Paulinas Tabletten liegen in einem geblümten Porzellandöschen. Foto: Nanna Zimmermann

„Ich hab vergleichsweise Glück“, weiß Paulina. Schaut man sie an, würde man nie denken, dass sie chronisch krank ist. Mit ihren dichten braunen Haaren und den leuchtend blauen Augen sieht sie vollkommen gesund aus, kein Hinken oder ähnliches deutet auf die Krankheit hin. Auch im Zimmer der Sinologie-Studentin gibt es keine Anzeichen. Nur die Tabletten liegen in einer kleinen geblümten Porzellandose auf dem Nachttisch – die ist „viel schöner als die Originalverpackung“, sagt Paulina. Unter dem Bett ist die Kühlbox aus Styropor verstaut, in der Paulina bis vor ein paar Monaten die Medikamente und Utensilien zum Spritzen transportiert hat. Seit sie auf die Tabletten umgestiegen ist, kommt die Box nur noch für Getränke zum Einsatz.

„Ein Medikament musste ich mir jeden Tag, ein anderes einmal die Woche spritzen, das hat mich schon ziemlich eingeschränkt. Ich musste das Zeug dann immer mitnehmen und kühlen.“ Paulina geht gerne auf Konzerte. Im Jahr 2011 war sie zum Beispiel bei dem dreitägigen Metalfestival Wacken.  „Da will man sich ja nicht gerade spritzen“, lacht sie. Die Tabletten dagegen – das sei nun wirklich kein Problem, winkt die 21-Jährige ab. Da dürfe sie bloß nicht ungewollt schwanger werden, aber das habe sie ja ohnehin nicht vor. Einschränkungen im Alltag habe sie praktisch keine mehr, nur alle drei Monate muss sie zur ärztlichen Routineuntersuchung. Auch die beiden Schübe, die sie bisher hatte, haben sich vollständig zurückgebildet. Ohne die Therapie sähe das vielleicht anders aus. „Die Krankheit arbeitet immer“, betont Paulina. „Schübe können kommen, sind aber nur die Spitze des Eisbergs.“

Auch heute ist MS unheilbar. Die Lebenserwartung von Betroffenen liegt meist sechs bis zehn Jahre unter dem Bevölkerungsdurchschnitt. Bei der schwereren, ständig fortschreitenden MS gibt es bisher keine Therapie – unter ihr leiden von Anfang an etwa 15 Prozent der an MS Erkrankten. Die zu spritzenden Inferon-beta-Präperate, die in den 80er Jahren eingeführt wurden, können den schubförmigen Verlauf jedoch oft positiv beeinflussen und die Schubrate senken. Die Tabletten, die Paulina seit zwei Monaten bekommt, sind noch ganz neu.

Erwin Lorenzen / pixelio.de

Paulina spielt selbst Bass und Schlagzeug. Foto: Erwin Lorenzen / pixelio.de

Paulina macht das Beste daraus

„Natürlich habe ich auch Zukunftsängste“, sagt sie. „Klar, die MS kann einem viel verbauen und ich hab keine Ahnung, was kommen könnte.“ Es sei zum Beispiel gar nicht gut, wenn ein potentieller Arbeitgeber von der Krankheit erfahren würde. Deshalb will die Studierende in diesem Artikel nicht erkannt werden. Gerade eine Arbeitsunfähigkeitsversicherung könne sie sich abschminken. Denn die Versicherungen wollen keine chronisch Erkrankten aufnehmen.  „Aber es bringt ja nichts, sich verrückt zu machen.“

Phasenweise, vor allem nach Paulinas letztem Schub, sei das schlimm gewesen. Da stelle sich einem schon auch die Frage nach der Gerechtigkeit, sagt sie. Die 21-Jährige versucht aber, positiv zu denken: „Die MS hat mich irgendwie auch stärker gemacht“, sagt sie. „Sie lässt einen bewusster leben, mehr im Hier und Jetzt.“ Paulina zeigt: Lebensqualität ist auch mit einer chronischen Erkrankung möglich. Ihr ist Musik wichtig: Sie geht nicht nur auf Konzerte, sondern spielt selbst Bass und nimmt Schlagzeugunterricht. Sie lebt nicht für oder trotz der MS – sie lebt mit ihr und lacht der tausend-gesichtigen Krankheit entgegen. „Es ist sowieso nicht zu ändern. Ich versuche, das Beste draus zu machen.“

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