Ein ganz besonders leckerer Saft

„Morgenstund hat Gold im Mund“: Was überzeugte Frühaufsteher zu ihrer persönlichen Doktrin gemacht haben, nimmt manch anderer wörtlich. Anhänger der Harntherapie trinken täglich ein Glas ihres goldenen Morgenurins. Das soll gegen alle mögliche Krankheiten und Wehwehchen helfen, von Asthma bis Rheuma – Unsinn oder bewährtes Hausmittel?Ein Glas des goldenen Saftes Foto: Franziska LehnertFocus Online bezeichnete sie als „Pinkel-Pionierin“, sie selbst sieht sich eher als die Berichterstatterin der Pinkel-Pioniere: Carmen Thomas, ehemalige WDR-Moderatorin, erste Frau im Sportstudio und Autorin des Buchs „Ein ganz besonderer Saft – Urin“. Das Werk ist heute so etwas wie die Bibel der Harntherapie-Fans und hat sich laut Thomas schon weit über eine Millionen Mal verkauft.

Angefangen mit der Pinkelei hat alles 1988 mit einer Sendung von „Hallo Ü-Wagen“. Bei der Mitmach-Radioshow wurden oft Tabuthemen aufgegriffen, wie Selbstbefriedigung, Küssen oder eben die Eigenharntherapie. Nach der Sendung erreichten die Moderatorin zahlreiche Rückmeldungen, die sie letztendlich dazu brachten, ihr Buch zu schreiben. Laut der Deutschen Gesellschaft für Harntherapie e.V. sollen heute rund fünf Millionen Deutsche regelmäßig ihren Morgenurin zur Stärkung des Immunsystems nutzen.

„Wie schmecke ich?“

Carmen Thomas kann durchaus Positives erzählen: „In den 25 Jahren, in denen ich mich mit diesem Thema beschäftige, sind immer wieder Leute zu mir gekommen – bestimmt an die hunderttausend – und haben mir unaufgefordert erzählt, wie gut ihnen die Urintherapie geholfen hat.“

Pro Tag produziert der Körper durchschnittlich 1 bis 1,5 Liter Urin. Foto: stefan klaassen  / pixelio.de Foto:

Pro Tag produziert der Körper durchschnittlich 1 bis 1,5 Liter Urin. Foto: stefan klaassen / pixelio.de

Dennoch ist das die Ausnahme. Den meisten Deutschen jagt der Gedanke an das Trinken des eigenen Urins einen Schauer über den Rücken. „Widernatürlich“ und „ekelhaft“ sind noch harmlose Begriffe, die in zufälligen Gesprächen zu dem Thema immer wieder fallen. Die ehemalige Sportschau-Moderatorin, die mit dem Ausspruch „Schalke 05“ in die deutsche Fernsehgeschichte eingegangen ist, hat Verständnis für diese Menschen: „Es gilt auch Respekt vor denen zu haben, die sich ekeln. Es kommt vor allem darauf an, Informationen zu streuen, damit  bei den Leuten einfach die Neugier auf sich selbst geweckt wird: Wie schmecke ich?“

Eine Hausapotheke in der Blase

Doch wie soll das überhaupt funktionieren, Urintherapie? Thomas zitiert die Forschungsergebnisse von japanischen Wissenschaftlern: „Der Urin ist immer ein Hologramm dessen, was gerade in diesem Moment mit dem Körper los ist. Kommt er von außen wie ein Fremdstoff daher, ist er genau der Impfstoff, den man für den aktuellen Zustand braucht. Eine Hausapotheke in der Blase, das ist das Geheimnis.“ Dass im Urin Giftstoffe enthalten sind, sei schlicht falsch. Die Journalistin ist überzeugt: „In der Natur gibt es keinen Abfall, alles wird wiederverwendet.“

Dr. Wolfgang Bühmann kann darüber nur den Kopf schütteln. Er ist Pressesprecher des Berufsverbandes Deutscher Urologen e.V. und praktiziert selbst auch seit 29 Jahren als solcher. „Dass es gut sei, Urin zu trinken, ist aus medizinischer Sicht schlicht und ergreifend falsch.“ Im Harn seien keine Inhaltsstoffe mehr enthalten, die dem Körper in irgendeiner Form noch nützen könnten – dafür sorgt die Niere. „Urin ist ein hochkonzentriertes Abfallprodukt des Körpers. Wenn Sie ihn diesem wieder zuführen, ist das so, als würde man einen Sack Hausmüll in der frisch geputzten Wohnung verteilen“, zieht Bühmann den Vergleich.

Die Niere – die Putzfrau des Bluts
Die Niere ist ein überaus fleißiges Organ. Pro Tag produziert sie 180 bis 200 Liter Primärharn. Kleine Nierenkörperchen filtern das Blutplasma und lassen nur Teilchen, die größer sind als 4,4 Nanometer, im Blut zurück. Der Rest wird erst einmal umgeleitet, in ein komplexes System aus Röhren – sogenannte Tubuli -, die sich an die Niere anschließen. Denn der Primärharn muss noch einige Male gefiltert werden, bis er den Körper verlassen kann. In ihm sind neben Wasser nämlich einige wichtige Stoffe enthalten, wie beispielsweise Glucose, Aminosäuren oder Elektrolyte.

Auch von dem Wasser verbleiben rund 99 Prozent im Körper, sodass letztendlich pro Tag nur 1 bis 1,5 Liter Endharn entstehen. Dieser enthält hochkonzentriert alle Stoffe, die von der Niere als unnütz erkannt und deswegen aus dem Blut gefiltert wurden. Über das Nierenbecken und durch den Harnleiter gelangt er schließlich in die Blase. Ist diese voll, wird der Gang zur Toilette fällig.

Doch woher kommen dann die ganzen Erfahrungsberichte, in denen Urin der Retter in der Not gewesen sein soll? „Mehrere Studien weisen nach, dass es keinen medizinischen Nutzen hat, Urin zu trinken oder auf die Haut aufzutragen. Gefährlich ist es aber auch nicht“, erklärt der Urologe weiter. Denn: Gesunder Harn ist steril und enthält keine Bakterien. Daraus ergibt sich für Bühmann auch die einzige Anwendungsweise, die ansatzweise Sinn mache: „Wunden werden gespült, damit sie sich nicht entzünden. Dafür nimmt man am besten eine sterile Flüssigkeit wie abgekochtes Wasser. Möglich wäre aber auch Urin, sofern keine Entzündung von Blase oder Harnwegen vorliegt.“

Möglicher Placebo-Effekt des Urins

Hinter den weiteren Erfolgsgeschichten vermutet der Facharzt allerdings etwas anderes: „Wenn ein Patient fest davon überzeugt ist, dass ihm ein bestimmtes Mittel hilft, dann kann sich sein Zustand verbessern, auch wenn das Mittel an sich völlig wirkungslos ist. Ich spreche vom sogenannten Placebo-Effekt.“ Entscheidend ist dabei vor allem die Erwartungshaltung des Patienten. Dabei führen allein das Verschreiben von Medikamenten durch den Arzt, Kommentare von Bekannten oder mögliche eigene Kenntnisse zu der bewussten Annahme, dass sich eine Besserung einstellen sollte. Zu diesem Ergebnis kamen die Verfasser einer Übersichtsstudie, die 2009 im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht wurde. Urin als nachgewiesen wirkstofffreies Mittel würde in dieses Schema passen.

Harnstoff und Urea
Harnstoff und Urea sind ein und derselbe Stoff – „urea“ ist nur die lateinische Bezeichnung. Im Körper spielt der Harnstoff eine wichtige Rolle: Bei der Zersetzung von Aminosäuren verhindert er die Entstehung von Ammoniak, ein Stoff der giftig für den Organismus wäre. Zusammen mit den stickstoffhaltigen Aminosäureresten verlässt der Harnstoff über den Urin den Körper.

Dank seines hohen Stickstoffgehalts ist Harnstoff weltweit der wichtigste Stickstoffdünger. Auch in der Kosmetik und Pharmazie findet er Verwendung. Wer jetzt befürchtet, dass in seiner Urea-Hautcreme Pipi von Tieren oder gar fremden Menschen enthalten ist, der kann beruhigt aufatmen: Harnstoff wird rein synthetisch gewonnen. Tatsächlich ist er der erste organische Stoff, der je chemisch nachgebaut werden konnte. Der deutsche Chemiker Friedrich Wöhler schaffte es 1828, die Verbindung künstlich zu produzieren und legte damit den Grundstein für die organische Chemie.

In Cremes und Salben kommt Urea als Feuchtigkeitsspender vor – denn Harnstoff hat eine hohe Wasserbindefähigkeit.  Auch in einem anderen Bereich findet die Substanz Verwendung: in der Tabakindustrie. Zigaretten wird häufig Harnstoff beigemischt, damit diese stärker werden. Der Stoff erhöht den ph-Wert und sorgt so dafür, dass das Nikotin besser ins Blut gelangt.

Dennoch mahnt Dr. Bühmann davor, jede Krankheit in Eigenregie mit einem Tässchen vom goldenen Mittelstrahl zu therapieren: „Bei ernsthaften Erkrankungen sollte man unbedingt den Arzt aufsuchen. Denn wir können den Patienten helfen, weil wir wissen was ihnen hilft – und was auch eben nicht hilft.“

Egal ob durch Augen, Mund oder Nase

Carmen Thomas sieht das etwas anders. Bei der Frage, wo die Grenzen der Eigenurintherapie liegen, möchte sie sich zwar nicht festlegen: „’Versucht macht Klug, Vergleich macht reich‘ so das Motto aller, die an vorurteilsfreier Forschung interessiert sind.“ Es käme nur darauf an, den Urin zu sich zu nehmen –sei es durch Mund, Nase, Augen oder die Haut. Ob sie selbst schon einmal die Harntherapie ausprobiert hat, will Thomas nicht verraten – es gehe um die Sache an sich und nicht um sie als Autorin. Aber: „Ich recherchiere immer gründlich.“

Artikelbild: Franziska Lehnert

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