Scratchen per Trimmrad

Ohne Strom Schallplatten abspielen – die DJs von „Tour de Vinyl“ beweisen, dass das möglich ist. Sie treiben per Trimmrad die Platten an.  Über ihre Trittfrequenz steuern sie die Geschwindigkeit, mit der die Platten abgespielt werden. pflichtlektuere.com hat dem Trio einen Besuch abgestattet.

Mit Jogginghose und Polohemd geht’s rauf ins Scheinwerferlicht: Wenn Chris, Patrick und Pierre die Bühne betreten, wird geschwitzt. Auch heute. Chris schwingt sich als erster auf eines der Trimmräder in der Mitte und beginnt langsam in die Pedale zu treten. Zehntelsekunden später rotiert eine Schallplatte und eine Männerstimme ertönt – die „Tour de Vinyl“ startet. Fahrer Nummer zwei klemmt seine Kopfhörer auf und tritt in die Pedale. Leises Pochen – dann wird der elektronische Rhythmus langsam lauter. Patrick strampelt noch schneller und der Rhythmus vermischt sich mit der Stimme, bis sie auf gleicher Geschwindigkeit zusammen harmonieren.

Muskelkraft erzeugt Töne

Die Töne entstehen, weil die Pedale der Trimmräder an den Plattenteller des Schallplattespielers angeschlossen sind. Das Besondere daran: Weil der Plattenspieler nicht mit externem Strom verbunden ist, kann der Ton nur durch Muskelkraft erzeugt werden. „Es passiert erst etwas, wenn wir uns aufs Rad setzen“, sagt Patrick. Wie schnell die Platte läuft, bestimmen die Jungs über die Trittfrequenz.

Video: Tour de Vinyl auf der Beatplantation 2010 (von Daniel Gugitsch)

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Während der Performance passiert das DJ-Trio die verschiedensten musikalische Genres wie Radfahrer Landschaften. Mal werden Platten von Heinz Erhardt aufgelegt und verfremdet, dann wieder Kraftwerk oder deutsche Schlagermusik in Drum ’n‘ Bass Versionen gespielt. Dass die schnellen Tempowechsel innerhalb eines Songs auch manchen Hörer überfordern und abschrecken, ist den Dreien bewusst. „Es ist auch nur anstrengend, wenn wir wollen, dass es anstrengend ist“, sagt Pierre. In ihrer Performance wollen „Tour de Vinyl“ vor allem eine Geschichte erzählen – mit einer Dramaturgie. Und die kann zwischendurch mal anstrengend sein.

Der Zuschauer beeinflusst den Künstler

Spannend sind für Chris, Patrick und Pierre die unterschiedlichen Reaktionen des Publikums auf den Auftritt. Denn die Stimmung der Zuschauer fließt direkt in die Performance des Trios ein, wie Patrick erklärt.

Vor allem bei älteren Zuschauern kommt die Show erfahrungsgemäßg gut an. „Ältere Zuschauer wissen es mehr zu schätzen, was wir tun“, sagt Pierre. „Während die jüngere Generation Plattenspieler meist nur mit der Klubkultur verbindet, ist die ältere noch mit Plattenspielern in Wohnzimmern aufgewachsen.“ Trotzdem funktioniere das Konzept für beide Generationen. Alles eine Frage der Abstimmung. „Wir können sowohl um 8 Uhr morgens in Recklinghausen vor älteren Leuten spielen als auch vor 150 tanzwütigen Drum ’n‘ Bass-Fans in Paris“, so das Trio.

Hommage an analoge Klänge

Chris, Patrick und Piere (v.l.n.r.) bei einer Performance in Luxembourg. Foto: Tour De Vinyl.

Chris, Patrick und Piere (v.l.n.r.) bei einer Performance in Luxembourg. Foto: Tour de Vinyl.

Über den Plattenspieler mischen sich Chris, Patrick und Pierre live auf der Bühne direkt in den Klang der Platte ein. Selber sehen sie sich in der Tradition klassischer DJ’s, wie Kool DJ Herc, Mix Master Mike oder Afrika Bambaataa. Auch diese manipulierten  die Musik durch Geschwindigkeitsänderungen oder Scratchen bewusst über den Plattenspieler. Der einzige technische Unterschied: Statt mit Händen, arbeitet das Trio eben mit ihren Füßen. Das führe dazu, dass man nicht so exakt und an bestimmte Stellen spulen könne, erklärt Patrick.

Die Arbeit von „Tour de Vinyl“ ist als Hommage an analoge Sounds und Schallplatten zu verstehen. „Das Vinyl ist das einzige Audioformat, wo du dem Ton zusehen kannst, wie er abgenommen, wie er von der Platte übertragen und hörbar wird. Du siehst die Rillen, du siehst die Nadel, du siehst den Tonarm, das siehst du bei der CD nicht“, sagt Pierre.

Einen Vinyl-Trend gebe es zwar nicht zurzeit, aber Patrick spricht von einer Rückbesinnung auf die Vorteile der Vinyl-Schallplatte: „Warum sollen wir die Idee der Schallplatte verwerfen? Warum nicht die Idee davon aufgreifen und sie neu verwenden?“

Den DJ2000 selber entwickelt

Über das Trimmrad wird der Schallplattenspieler angetrieben. Foto: Tour de Vinyl.

Über das Trimmrad wird der Schallplattenspieler angetrieben. Foto: Tour de Vinyl.

Und genau das machen Pierre, Patrick und Chris mit dem von ihnen eigens konzipierten neuen Musikinstrument, das sie den DJ2000 nennen. Die Installation stammt aus einem Projekt der FH und der Uni Potsdam, an dem Patrick, damals Student an der Uni, beteiligt war. Für die Bühne entwickelte er die Trimrad-Plattenspieler-Konstruktion mit Chris und Pierre weiter. Die drei arbeiteten zu diesem Zeitpunkt schon seit mehreren Jahren für andere Projekte zusammen.

Im Mai 2009 traten die Drei ihre erste Etappe an. Das Projekt sprach sich schnell herum und so fuhr das „Racing Team“ bereits durch weite Teile Deutschland und nach Polen, Frankreich, Luxembourg und in die Niederlande.

In nächster Zeit sind die Tour de Vinyl-Jungs jedoch ähnlich wie die Radsportler auftrittsmäßig erst einmal in der Winterpause. Statt ihre durchgeschwitzten Trikots nur zum Lüften aufzuhängen, tüfteln die Freunde in ihrem Herner Proberaum, dem „Labor“, bereits an weiteren Installationen für kommende Rennen.

Teaserbild: Tour de Vinyl.

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