Duisburger Uni-Professor lässt Autos hüpfen

Breit wie eine Straße und voll wie die A 40 zu schlimmsten Stauzeiten. Der Schreibtisch von Professor Dr. Michael Schreckenberg in seinem kleinen Büro in Duisburg quillt über, Akten liegen auf dem Boden, die Regale sind voll gestellt. Der Mann scheint sich an Enge nicht zu stören. Darf er auch nicht, schließlich erforscht Michael Schreckenberg warum es voll und eng wird – auf Autobahnen, in Fußballstadien oder bei Großereignissen wie dem Weltjungendtag in Köln. Überall sind Schreckenbergs Forschungsergebnisse gefragt.

Stauforscher Michael Schreckenberg in seinem Duisburger Büro. Fotos (3): Klingemann.

Stauforscher Michael Schreckenberg in seinem Duisburger Büro. Fotos (3): Michael Klingemann.

Konzentriert guckt der 53-Jährige auf den Bildschirm, der in roten, gelben und grünen Linien die aktuelle Verkehrslage in NRW darstellt. Schreckenberg ist offiziell von der Landesregierung mit der Erfassung, Darstellung und Prognose von Staus beauftragt.

Mit Physik alleine lassen sich Staus nicht erklären

„Verkehr ist sehr speziell, weil er nicht ausschließlich physikalischen Gesetzen unterliegt, denn da sitzen ja Menschen im Auto“, sagt Schreckenberg, der sich bei seiner Forschung nicht nur auf physikalische Ergebnisse verlässt, sondern sich auch mit der Psychologie des Autofahrens beschäftigt. „Wenn ein Mensch im Fahrzeug sitzt, nimmt er sich unter dem Eindruck der Anonymität Dinge raus, die er im privaten Leben nicht machen würde. Wer im Verkehr auffällig ist, ist sonst eher unauffällig“, erklärt Schreckenberg. Auch der Stauforscher bleibt im Stau nicht gelassen, sondern ärgert sich, wenn es mal länger dauert.

„Was machst du denn den ganzen Tag?“

„Was machst du denn eigentlich in deinem Job?“ ist die Reaktion seiner Familie, wenn alle zusammen mit dem Stauforscher am Steuer im zähfließenden Verkehr nur langsam vorankommen. „Gibt es keinen Stau, heißt es, womit beschäftigst du dich denn den ganzen Tag? Wie man’s macht, macht man’s falsch“, erzählt der dreifache Familienvater. Schreckenberg, der in Duisburg wohnt und „stolz auf das Ruhrgebiet“ ist, macht gerne in Italien Urlaub und fährt dann aus Forschungszwecken auch schon mal zu Zeiten los, zu denen vor Staus gewarnt wird. „Ich bin am ersten Samstag der Osterferien um Viertel nach zehn losgefahren und hatte auf der ganzen Strecke nicht einen Stau.“  Eine Geschichte, die sich auch Schreckenbergs Studierende anhören konnten. Max Kruß, der Physik bei dem Duisburger Professor lernt, findet „den Schreckenberg total locker“ und mag es, dass er nicht nur von Physik redet, sondern auch andere interessante Geschichten aus dem Alltag parat hat.

Bekannt dank „Wer Wird Millionär?“

Das sieht der Stauforscher selten: Leere Straßen.

Das sieht der Stauforscher selten: leere Straßen.

Auf jeden Fall dazu gehört die Geschichte mit der Millionenfrage. Es war im Mai 2008. „Wer wird Millionär? Das Prominenten-Special“. TV-Entertainer Oliver Pocher spielt für einen guten Zweck und bekommt folgende Millionen-Frage gestellt: „Das Nagel-Schreckenberg-Modell liefert eine Erklärung für die Entstehung von …?“ A: Sandwüsten, B: Verkehrsstaus, C: Grippewellen, D: Börsencrashs.“ Pocher wusste die Antwort, gewann die Million und machte gleichzeitig Professor Michael Schreckenberg bundesweit bekannt. „Das haben damals mehr als acht Millionen Menschen gesehen. Auf unseren Wikipedia-Eintrag haben wir nach der Ausstrahlung in 48 Stunden 150.000 Zugriffe gehabt, sonst waren es 150 pro Monat“, sagt Schreckenberg mit einem gewissen Stolz in der Stimme. Auch wenn es ihm lieber gewesen wäre, „wenn das die 50-Euro-Frage gewesen wäre“, scherzt Schreckenberg, denn die Einstiegsfrage bei „Wer Wird Millionär?“ fragt meistens leichtes Allgemeinwissen ab.

Meistzitierte Arbeit im Bereich Verkehr aller Zeiten

Das Nagel-Schreckenberg-Modell war der Beginn von Schreckenbergs Karriere als Stauforscher. 1992 wollte der Student Kai Nagel für den Bereich Logistik ein Verkehrsmodell erstellen und zog Michael Schreckenberg zu Rate. Zusammen entwickelten sie an der Universität Köln ein Zellularautomatenmodell, das die Straße in Zellen einteilt und die Autos in der Simulation „hüpfen lässt“. Es war die erste wissenschaftliche Erklärung dafür, wie Staus aus dem Nichts entstehen. Was lustig aussieht, ist die meistzitierte Arbeit aller Zeiten, die sich mit Verkehr beschäftigt. In mehr als Tausend wissenschaftlichen Fachzeitschriften wurde das Modell laut Schreckenberg schon behandelt.

Rot will eigentlich 3 Zellen vorspringen, schwarz fährt nicht mehr. Gleich kommt es im Nagel-Schreckenberg-Modell zum Stau.

Das rote Auto will eigentlich drei Zellen vorspringen, das schwarze fährt aber nicht mehr. Gleich kommt es im Nagel-Schreckenberg-Modell zum Stau. Grafik: Schreckenberg.


Bundesweites Stadionverbot nach Interview

Schreckenberg beschäftigt sich aber nicht nur mit Autos, sondern auch mit Fußgängerdynamik. So hat er im Dortmunder Westfalen-Stadion untersucht, wie lange es braucht, bis die Fans das Stadion verlassen haben. Dazu hat er Fußgängerströme analysiert und Polizeivideos ausgewertet. Das Verhältnis zwischen Schreckenberg und den Stadionbetreibern war nicht immer so gut. „Als die Stiftung Warentest mal vier Stadien als mangelhaft beurteilt hat und ich in einem Interview in dem Heft auftauchte, hielt man mich beim DFB für den Gutachter.“ Daraufhin bekam Schreckenberg Stadionverbot. „Jeder darf ins Stadion, nur der nicht“, hieß es damals. Zum BVB zu gehen, daran konnte Schreckenberg aber keiner hindern, nur mit TV-Teams oder zu Forschungszwecken kam er nicht mehr rein. Heute hat sich das Verhältnis zwischen dem Forscher und dem DFB entspannt. Der Duisburger Physiker war sogar an den Planungen zum Umbau des Berliner Olympiastadions beteiligt. „Ich habe die Sektoreneinteilung vorgenommen.“

Keine Loveparade ohne den Stauforscher

Bei all den Projekten kommt die Lehre aber nicht zur kurz. Schreckenberg bringt den Studierenden unter anderem die Grundlagen der Datenverarbeitung bei und leitet zahlreichen Projekte und Seminar zur Verkehrsphysik. Doch dann guckt der Professor auf die Uhr. „Ich habe noch einen Termin.“ Jetzt geht es um zappelnde Menschen. In Duisburg steht eine Besprechung zur Loveparde an. Die Sicherheitsbehörden wollen von ihm wissen, wie viel Menschen Duisburg und vor allem der Duisburger Hauptbahnhof aufnehmen können.

Text und Fotos: Michael Klingemann

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