Schnittchen, Gürkchen und Becken-Bouncing – Undercoverjournalisten beim Männerseminar

Bastian Schlange und Patrick Joswig erkunden skurrile Seiten des Ruhrgebiets im Selbstversuch. Unter dem Namen Wattenscheider Schule schreiben sie Undercover-Reportagen über ihre Erlebnisse. Beim türkisch-deutschen Literaturfestival in der Essener Zentralbibliothek lasen sie ihre neueste Geschichte: „Die Herzenskrieger. Eine Rückkehr zur Männlichkeit – mit Sojasprossen, Tantra und Gebrüll“.

Das Logo der Wattenscheider Schule verbildlicht u. a. die Heimat von Joswig und Schlange: Bochum-Wattenscheid! Foto: Wattenscheider Schule

Das Logo der Wattenscheider Schule verbildlicht u. a. die Heimat von Joswig und Schlange: Bochum-Wattenscheid. Foto: Wattenscheider Schule

Schlange und Joswig lesen normalerweise in kleinen Theatern oder Kneipen, in der Essener Zentralbibliothek bewegen sie sich auf unbekanntem Terrain. Statt Bier und Zigaretten, konsumiert das Publikum hier Tee und Kuchen. Schlange trinkt Ballantine’s Whiskey und Wasser, Joswig Brinkhoff’s aus der Flasche. Die Wattenscheider Schule setzt sich vor das Publikum. „Wir haben echte Männer besucht“, beginnt Schlange. Der Schnauzbartträger hebt sein Manuskript von der roten Samttischdecke. Hinter ihm und seinem rothaarigen Kollegen, der ihn auf dem Weg zu purer Männlichkeit beim Männerseminar begleitet hat, prangt ihr Logo. Darauf wird auch der Ursprung ihrer Freundschaft und ihres Künstlernamens Wattenscheider Schule verbildlicht: Das Wappen von Bochum-Wattenscheid. Hier wuchsen sie auf, lernten sich kennen, kamen direkt mit dem Pott in Berührung. Joswig wurde Schauspieler und Dekorateur, Schlange freiberuflicher Journalist und Autor. Beide arbeiteten bei dem Blog und Regionalmagazin Ruhrbarone, als sie 2009 die Idee Wirklichkeit werden ließen und ihre erste Undercover-Geschichte aus dem Ruhrpott veröffentlichten. Bei Ruhrbarone findet man ihre Reportagen immer noch, ebenso auf ihrer Homepage. Etwa alle drei Monate geben sie zusätzlich eine Lesung.

Sprechkristall und Marmor-Dildo

„Wir hatten nicht so viel am Körper, um Kameras zu verstecken“, macht Schlange das Publikum heiß. Sex sells überall. Statt exklusive Fotos vom Männerworkshop, sehen die Zuhörer während der Lesung Zeichnungen von Schlange und Joswig. Und immer wieder das Portraitfoto von Björn Thorsten Leimbach, demjenigen, der den Männerworkshop „Herzenskrieger – der neue Mann“ ins Leben gerufen hat. Sein Buch „Männlichkeit leben. Die Stärkung des Maskulinen“ haben die Undercover-Reporter mitgebracht und auf die rote Samttischdecke gestellt. Eifrig zitieren die beiden Reporter während der Lesung daraus.

Einschüchterung bevor der Workshop richtig angefangen hat: Ein schwarzer Gummidildo inmitten der Teilnehmer. Foto: Adrian Imig

Einschüchterung bevor der Workshop richtig angefangen hat: Ein schwarzer Marmor-Dildo inmitten der Teilnehmer. Foto: Adrian Imig

Die beiden berichten, dass ihr Herzenskrieger-Training im Mehrzweckraum eines Teilnehmers stattfand. Das Seminar begann für Joswig und Schlange mit einem Schock: Ein schwarzer Marmor-Dildo prangte in der Mitte des Raumes. Er wurde flankiert von einem, ebenfalls Phallus-förmigen Kristallstab, der in der Vorstellungsrunde als Erzählstab diente. Wie sie erzählen, flachte ihre Dildoangst etwas ab, als es zur ersten Übung kam: Atmung und Katharsis. Wenig später tanzte und schrie Schlange mit den anderen Männern wie in Ekstase. Joswig berichtet, dass er sich in diesem Workshop nicht so richtig öffnen konnte. Die Männer schrien Schimpfwörter gegen das andere Geschlecht. „Frauen-Bashing extrem“, beschreibt Joswig das Seminar. Und er fügt hinzu: „Männer mögen’s heiß.“

Pure Authentizität

Auflachen im Publikum zwischen einer Gabel Kuchen und einem Schluck Tee. Joswig greift zur Brinkhoff’s Flasche. Er und Schlange sind routinierte Leser, auf der Bühne interagieren sie locker. „Du hast deinen Einsatz verpasst!“, sagt Schlange zu Joswig und kommentiert kurz darauf das Gelesene aus ihrer Geschichte: „Das war wirklich so!“ Die Ideen für neue Undercover-Reportagen finden sie in Form von Flyern in ihrem Briefkasten, im Fernsehen oder auf der Arbeit. In ihren gemeinsamen Texten sagen sie stets, was sie denken. Dabei achten sie jedoch darauf, den beschriebenen Personen ihre Würde zu lassen. „Wir sind die Idioten in den Geschichten“, sagt Schlange.

Sexercises

Die Wattenscheider Schule wird Herzenskrieger! So wie auf dem Cover der aktuellen Geschichte sah das Training aber nicht aus... Foto: Wattenscheider Schule

Die Wattenscheider Schule wird Herzenskrieger! So wie auf dem Cover der aktuellen Geschichte sah das Männertraining aber nicht aus... Foto: Wattenscheider Schule

Apropos Idioten: Die Undercover-Reporter fügen hinzu, dass die Männer im Seminar immer weiter schrien, schließlich sogar ihrem Nachbarn ins Gesicht. Nach einer Meditationsübung gab es für die männlichen Teilnehmer Schnittchen, Gürkchen, Saft und Wasser. Testosteron in Stullenform. Als „Sexercises“ beschreiben die Autoren, was als nächstes passierte: Die Männer lagen auf dem Rücken, Beine angewinkelt, hoben ihr Becken und ließen es auf den Boden knallen. Becken-Bouncing. Oder wie die beiden Undercover-Reporter es nennen: „Im Gleichschritt Arsch.“ Ermutigt durch die Worte ihres Workshop-Leiters: „Es kann bei dieser Übung auch erotisch werden. Aber das ist okay“, stöhnten Schlange und die anderen Teilnehmer des Männerseminars los. Joswig kommentiert: „Wer schreit hat Geschlecht. Männlichkeit kann so einfach sein“.

Joswig beschreibt, dass er gegen Ende des Herzenskrieger-Trainings Schmerzen hatte. Selbst bei der abschließenden Gesprächsrunde unter Männern mit einer Flasche Radler, stieg seine Stimmung kaum. Joswig und Schlange waren sich nach dem Seminar einig: Ein richtiger Mann braucht Bier und Zigaretten. Rauchen und trinken – „der pubertäre Todeskrieg trifft auf die Weisheit der Askese“, gestehen die Gründer der Wattenscheider Schule dem Publikum in der Essener Zentralbibliothek. Und machen sich nach der Lesung eine Kippe an.

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