Professor bestimmt Erdradius von Hand

Die Sonne, der wichtigste Mitspieler für die Vermessung der Erde, strahlt an diesem Morgen freundlich am Horizont. Auf dem Dach der Physik in Essen ist es fast so warm wie zur Mittagszeit. Allen anderen Mitspielern wäre es sicher lieber gewesen, hätten sie sich erst um 12 Uhr mit der Sonne verabredet – dann hätten sie länger schlafen können. Es ist kurz nach acht Uhr morgens.

Erdmessung mit dem Sonnenstab. Foto: Robert Zapp

Erdmessung mit dem Sonnenstab. Foto: Robert Zapp

Das Spielfeld liegt vor Physiker Udo Backhaus ausgebreitet: Eine Holzplatte, entlang der Nord-Süd Achse der Erde ausgerichtet. An einem Ende ragt ein Stab in die Luft,  Gnomon genannt, dessen dünner Schatten über das Spielfeld fällt. Auf der Platte liegt ein großes, weißes Blatt mit einer Art Koordinatensystem. Wie verfolgt man den Lauf der Sonne um die Erde, wenn man nicht reinschauen kann? Man beobachtet Schatten.

„Sie werden gleich einem historischen Moment beiwohnen. Sie können sich vorstellen, dass jetzt überall auf der Welt Menschen zum gleichen Zeitpunkt das Gleiche tun.“ Backhaus ist bestens gelaunt. In ein paar Minuten, nach mitteleuropäischer Zeit um 8:47 Uhr, machen alle Spieler überall auf der Welt einen Punkt auf ihr Koordinatensystem – an der Spitze des Schattens, den der Stab über das Blatt wirft. Ein kleiner Punkt auf dem Papier, ein großer für die Menschheit: „Wir wollen versuchen, mit diesem Experiment so genau wie möglich die Entfernung zwischen den einzelnen Messpunkten auf der Erde zu bestimmen und darüber dann Form und Umfang unseres Planeten.“

Die Messung auf dem Dach der Uni

Physiker Backhaus misst den Erdradius mit seinen Studenten. Foto: Robert Zapp

Physiker Backhaus misst den Erdradius mit seinen Studenten. Foto: Robert Zapp

Backhaus ist in seinem Element, als er die letzten Sekunden in der Hocke abwartet und die millimeterfeinen Bewegungen des Schattens mit der aufgehenden Sonne verfolgt. „Jetzt!“ , rufen die Zuschauer. Nach einem letzten Blick auf die Uhr senkt er den Bleistift  aufs Papier. Stille. Dann ein Anflug von Ärger: „Mist, ich habe ungenau markiert. Mein Punkt ist zu dick, seht ihr? Ich hätte ein paar Minuten vorher anfangen sollen, Punkte zu setzen.“

Es wirkt kurz so, als sei das Ziel verfehlt – wenn doch alles genau gemessen werden soll. „Wie sich der Fehler später auswirkt, kann ich jetzt nicht sagen, aber so exakt wie eine Satellitenvermessung können wir eben nicht sein“, erklärt Backhaus. Wenn die Erde schon mit komplizierter Technik vermessen wurde, wieso spielen dann Leute aus Syrien, Kanada, aus dem Iran und Bulgarien mit? „Wir wollen zum Jahr der Astronomie auf den Lauf der Sonne aufmerksam machen und für astronomische Zusammenhänge begeistern. Klar, man kann alle möglichen Daten bei Wikipedia abrufen. Aber das ist doch nichts gegen das Erlebnis, sich bei einem Experiment bewusst zu machen, wo auf der Erde gerade andere Teilnehmer die Sonne sehen.“

Hier gibt’s ein Video vom Dach zu sehen

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Wie man den Erdradius mit Hilfe eines Schattens berechnet

Aber wie vermessen Backhaus und die anderen Mitspieler nur mit Punkten auf einer Platte die Erde? Bei der Frage muss der Physiker etwas ausholen: Ein wenig Galileo, ein wenig Kepler, ein wenig Pythagoras und Adam Riese.

Infografik: Wie errechnen die Teilnehmer den Abstand zum subsolaren Punkt? Grafik: Didaktik der Physik/UDE

Infografik: Wie errechnen die Teilnehmer den Abstand zum subsolaren Punkt? Grafik: Didaktik der Physik/UDE

An den unterschiedlichen Orten auf der Welt, wo die Gruppen messen, haben die Böden jeweils einen anderen Winkel zur Sonne. Überall verwenden die Mitspieler das gleiche Spielfeld und den gleichen Stab. Sie markieren die Position des Schattens, den der Stab über die Platte wirft. Aus der Lage des Schattens Richtung Norden oder Süden (je nach Position auf Nord- oder Südhalbkugel), aus seiner Länge und aus dem Winkel zwischen auftreffendem Sonnenlicht und Erdboden können die Spieler am Ende ihre Entfernung zum subsolaren Punkt bestimmen (siehe Infografik). Das ist der Ort, an dem die Sonne zum Messzeitpunkt genau im Zenit steht. In diesem Fall war das Bangalore in Indien. Wenn diese Entfernung bekannt ist, können sie die Strecke zu den Orten der anderen Teilnehmer und den Erdradius berechnen. Dies geschieht über Kreis- und Winkelberechnungen und Dreisatz. (Mehr zu den Details der Berechnungen…)

Nachdem der Ärger über den kleinen Fehler vorbei ist, macht Backhaus noch im Abstand von je einer Minute Punkte aufs Papier. „Wir markieren jetzt weiter bis heute Mittag, da ist der nächste offizielle Messzeitpunkt. Wenn Sie wollen können sie das übernehmen“, sagt Backhaus zu den umstehenden Studenten.

Die Studentinnen verfolgen den Lauf der Morgensonne. Foto: Robert Zapp

Die Studentinnen verfolgen den Lauf der Morgensonne. Foto: Robert Zapp

Özlem Öztürk (24) traut sich: Die Lehramtsstudentin mit dem Fach Physik kniet sich vor das Brett. Bei ihrem ersten Punkt ist sie noch unsicher. „So einfach ist das echt nicht, man muss das Ding genau in der Mitte treffen!“ Drei weitere Minuten beugt sie sich konzentriert über das Schaubild, dann reicht sie den Stift weiter.

Warum von Hand – und nicht per GPS?

Schulklassen aus Deutschland und anderen Ländern haben sich angemeldet, die das Projekt als Abwechslung zum Physikunterricht nutzen. Aber nicht nur Schulklassen – sowohl Akademiker als auch Hobbyastronomen aus Argentinien,  Jamaika und dem Oman spielen mit. Insgesamt sind es 21 Gruppen. Sie beweisen durch Zusammenarbeit: Die Erde ist eine fast perfekte Kugel – und erfahren Astronomie hautnah.

Das Spiel dauert. Wer ungeduldig wird, weil es noch keinen Gewinner gibt, hat etwas vergessen. Die beiden wichtigsten Mitspieler nämlich, die von Beginn an dabei waren: Die Sonne und die Erde. Sie lassen sich nie ganz in Modelle pressen. Die Essener stellen fest, dass der Erdradius bei 6352.5 km liegt – die Sonnenanbeter in Istanbul sagen 4376.9 km. Näher dran sind sicher die Essener, doch was wirklich auf den Millimeter stimmt, weiß nur die Erde selbst.

Text und Fotos: Robert Zapp

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