Wenn Töne das Gedächtnis kitzeln

2014_12_Reportage Demenz

Wer sind Sie noch einmal? Kenne ich Sie? Mit zunehmendem Alter wird das Gehirn immer vergesslicher. Demenzkranke brauchen dann nicht nur Pflege, sondern auch viel Zuneigung. Als Alltagsbegleiterin in einem Seniorenzentrum kümmert sich Edith um diese Menschen, damit sie immer noch lachen und singen können.

Ein kleiner Raum mit vielen großen Fenstern, direkt neben dem Speiseraum. Es riecht nach Essen. Zu Mittag gab es gegrillte Hänchenkeulen mit Kartoffelrösti und der Geruch liegt noch immer in der Luft. Über 20 alte Frauen und ein Mann sitzen hier in einer Tischrunde. Aber nicht zum Essen. Mit trüben und ermüdeten Augen schauen sie in den Raum. Es herrscht Stille. Die Meisten unter ihnen sind dement. Gesprächsthemen haben nur wenige. Der Großteil sitzt in einem Rollstuhl oder auf einem Stuhl neben dem Rollator und wartet. Für Edith ein ganz gewöhnlicher Augenblick, während sie weitere Bewohner in ihren Rollstühlen in den Raum schiebt. Die 48-Jährige ist Mitarbeiterin des Deutschen Roten Kreuz und arbeitet in einem Seniorenzentrum in Herne.

Melodien aus der Jugendzeit

Um Punkt 16 Uhr hat das Warten ein Ende. Edith schlägt in die Tasten des alten Klaviers und die ersten Töne vom Volkslied „Und in dem Schneegebirge“ erklingen: „Ich bin nicht alt geworden, ich bin noch allzeit jung“ heißt es im Text. Ein Lächeln und Schmunzeln verbreitet sich in den Gesichtern. Die Melodien und Texte aus ihrer Jugendzeit sind allen bekannt. Ohne zu zögern singen sie die alten Texte mit. Einige mit kraftvollen Stimmen, andere summend einzelne Melodiefetzen. Doch eines haben sie alle gemeinsam: Sie rücken ihre Demenz für kurze Zeit in den Hintergrund. Nach nur wenigen Augenblicken schon beginnen sich die Ersten zur Musik leicht zu bewegen. Von Ermüdung ist längst keine Spur mehr.

Wissenswertes zum Thema Demenz
  • Je älter ein Mensch wird, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit einer Demenzerkrankung.

  • Demenz ist ein Oberbegriff für mehr als 50 Krankheitsformen.

  • Alzheimer ist eine von vielen Demenzerkrankungen und tritt am häufigsten auf.

  • Ursachen für Alzheimer sind bestimmte Eiweißablagerungen im Gehirn, die den Stoffwechsel der Nervenzellen stören.

  • Nicht alle Demenzerkrankungen sind heilbar, aber alle sind behandelbar.

Training für’s Gedächtnis

Für Edith gehört dies zu den schönsten Momenten ihres Berufs. Seit dreieinhalb Jahren arbeitet die dreifache Mutter nun schon in Teilzeit in dem Seniorenzentrum. Ihren Nachnamen möchte sie aus privaten Gründen nicht im Internet veröffentlicht sehen. Zu ihren Aufgaben als Alltagsbegleiterin gehört unter anderem das gemeinsame Singen am Montagnachmittag. „Singen ist wichtig. Die Leute strengen sich noch einmal an und müssen sich an die Texte erinnern. Das ist ein gutes Training für ihr Gedächtnis“, sagt sie.

2014_12-Reportage Demenz 2

Jede Woche begleitet Edith die Senioren beim gemeinsamen Singen auf dem Klavier. Fotos im Artikel: Annabell Bialas; Teaserbild: flickr/ Sir_Leif

 Zwischendurch ein Rätsel

Daher hat sich Edith auch ein ganz spezielles Programm für die Bewohner ausgedacht. Zwischen den Stücken liest sie ihnen einen Textabschnitt vor und fragt nach dem Textanfang des Liedes. Auch an diesem Montag fragt sie die Bewohner: „Zu welchem Lied gehört der Text ‚Lustig schmettert das Horn‘?“ Eifrig beginnen die ersten, die Titel zu erraten. Alle durcheinander: „Der Jäger in dem grünen Wald?“, „Mein Vater war ein Wandersmann?“ Dabei sieht man einigen die Konzentration richtig an: Sie runzeln die Stirn und reiben sich den Kopf. Es ist wie ein kleiner Wettkampf: Jeder möchte gerne das Lied erraten.

Dieses Mal erkennt keiner der Senioren die Liedzeile. Deswegen gibt Edith ihnen einen Tipp und spielt den Anfang der Melodie vor. Es dauert nicht lange und eine ältere Dame kommt auf die Lösung: „Hoch auf dem gelben Wagen!“ Alle anderen Teilnehmer ärgern sich, dass sie nicht darauf gekommen sind. In einer kurzen Erholungspause liest Edith der Gruppe noch Witze oder Geschichten vor. Dann setzt sie sich wieder mit sichtlich viel Freude ans Klavier und spielt die letzten Lieder.

Am Ende sind alle begeistert und Edith zufrieden. Wenn sie ihre Nachmittagsstunde vorbereitet, gibt sie sich immer viel Mühe, erzählt sie. Mittlerweile kennt sie die Bewohner und weiß genau, was ihnen gefällt. Edith ist längst klar: Auch demente Bewohner haben hohe Anforderungen.

Singen direkt am Bett

Nach dem Singen muss Edith alle Bewohner wieder in ihre Zimmer bringen. Mehrmals läuft sie dafür die Stockwerke hoch und runter. Auf insgesamt drei Etagen wohnen die Bewohner. Manchmal hilft ihr dabei eine Praktikantin, doch die ist heute krank. Für Edith bleibt keine Zeit zum Ausruhen. Sie muss sich noch um die bettlägerigen Bewohner kümmern. Diese sind in ihrer Demenz schon so weit fortgeschritten, dass sie nicht mehr an den Gruppenangeboten teilnehmen können. Gerade weil Edith sie nur einmal am Tag besuchen kann, versucht sie, die wenigen Augenblicke bei ihnen immer besonders auszunutzen.

2014_12_Reportage Demenz 3

Auch die Einzelbetreuung gehört zu Ediths Aufgaben als Alltagsbegleiterin.

Heute besucht sie wieder die 91-jährige Irma in ihrem Zimmer. Sie ist dement und spricht kaum noch ein deutliches Wort. „Wie geht es Ihnen heute?“, fragt Edith und stellt sich neben ihr Bett. Die Frau nuschelt kaum verständlich vor sich hin. „Wollen wir gemeinsam singen?“, erkundigt sich Edith und summt ihr eine Melodie vor. Sofort bekommt die Seniorin ein Funkeln in ihren Augen und summt die Melodie mit. Erst schwach, dann etwas deutlicher. Zwischendurch schafft sie es sogar, einzelne Textpassagen mit zu singen. Selbst ihr Fuß unter der Decke bewegt sich langsam zur Musik. Bevor Edith wieder geht sagt die ältere Dame leicht undeutlich: „Oh, Dankeschön.“

Hilfe mit Klavier, Kamm und Fotoalbum

„Vielleicht ist sie nicht mehr so fit im Kopf, aber sie braucht genauso viel Zuneigung und Fürsorge wie die anderen Bewohner“, erzählt Edith: „Heute war sie besonders aufgeschlossen, aber manchmal reagiert sie gar nicht.“ An solchen Tagen benutzt Edith dann einen Massageball und massiert ihr die Arme oder kämmt sie. Gerne sieht sie sich in solchen Situationen auch Familienfotos mit den Bewohnern an. Die Fotos erinnern die Senioren an alte Zeiten. „Besonders wichtig ist, es einfühlsam zu sein“, erzählt Edith: „Es kommt schon auf den Ton an, wie ich mit den Bewohnern spreche. Je nach dem reagieren sie auch ganz anders auf mich.“

Am Ende des Tage muss Edith dann noch an den Schreibtisch: Alles, was sie mit den Bewohnern gemacht hat, dokumentiert sie. Das ist vor allem wichtig, damit gesichert ist, dass alle Bewohner ihre gesetzlich verpflichtende Einzelbetreuung erhalten. Aber natürlich auch, damit die Mitarbeiter sich so abstimmen und individuell auf die einzelnen Bewohner und deren Bedürfnisse eingehen können. Bei insgesamt 13 Bewohnern, um die sich Edith kümmert, kann das schon dauern.

Mit Dienstschluss endet ihre Arbeit dann aber noch nicht. Zu Hause macht sich Edith Gedanken, wie sie ihre nächsten Gruppenstunden gestaltet. Sie weiß, wie wichtig ihre Arbeit für die Senioren ist: „Ich mache das so, als wäre es für mich, wenn ich in der Situation wäre.“ Deshalb setzt sie sich noch abends an Klavier – und probt für das nächste gemeinsame Singen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert