Die Liebe teilen

Es gibt viele Gründe dafür, eine Liebesbeziehung zu führen. Emotionaler Rückhalt und Geborgenheit gehören dazu, genauso wie Intimität und Erotik. Beziehungen können die Grundlage für eine Familie stellen und finden in unserem Verständnis immer als Paar statt. Doch wo steht geschrieben, dass Beziehungen nur zu zweit funktionieren?

Es geht auch anders. Davon zumindest sind Polyamoristen überzeugt. Sie leben ein Gegenmodell zur klassischen Paarbeziehung: die Polyamorie. Anhänger dieser Lebensform lieben mehrere Menschen gleichzeitig. Häufig haben sie einen Hauptpartner sowie eine oder mehrere Nebenbeziehungen. In der Polyamorie geht es nicht nur um sexuelle Beziehungen, sondern darum, langfristige liebevolle Bindungen aufzubauen. Ein ehrlicher Umgang mit allen Beteiligten gehört dabei zu den Grundregeln. Keine Nebenbeziehung wird verschwiegen. Ob das klappen kann, haben wir Paartherapeut Rüdiger Wacker gefragt. 

pflichtlektüre: Herr Wacker, ich stelle mir das unglaublich kompliziert vor. Es ist schon schwierig genug, eine normale Zweierbeziehung erfolgreich zu führen. Bei polyamoren Beziehungen vervielfacht sich diese Beziehungsarbeit ja nochmal.

In seiner Praxis wurde dem Essener Paartherapeut Rüdiger Wacker schon öfter von Polyamorie berichtet. Foto: Lara Eckstein

Rüdiger Wacker: Es ist auf jedenfall eine Steigerung der Verhandlungskompetenz und des Austausches notwendig. Mein Beruf als Paartherapeut beweist, dass es sehr viele Möglichkeiten gibt schon in Paarbeziehungen zu scheitern. In Dreier-, Vierer- oder Fünfer-Beziehungen ist diese Wahrscheinlichkeit mathematisch noch größer. Da muss dann halt mehr dran gearbeitet werden.

Kann so ein  Beziehungsgeflecht auf Dauer funktionieren?

Die Fakten sprechen dafür. Es gibt Menschen, die offensichtlich langfristig polyamor leben und die sehr zufrieden damit sind. Die Frage ist nur, wenn man ein statistisches Experiment mit 1000 Menschen macht, bei wie vielen würde das funktionieren? Da gibt es viele Diskussionen.

Menschen, die polyamor leben, sind nicht nur sexuell intim mit mehreren Personen, sondern wollen auch liebevolle Verbindungen aufbauen. Kann man Liebe überhaupt auf mehrere Personen aufteilen?

Polyamore Menschen würden sagen ja. Klienten haben mir schon öfter erzählt, dass das zumindest über einen gewissen Zeitraum möglich ist. Der Begriff „Liebe“ ist ja nicht nur auf die klassische Paarbeziehung beschränkt. Ich kann genauso auch Liebe für meine Kinder, Eltern und Geschwister empfinden. Insofern kann Liebe schon auf mehrere Personen aufgeteilt werden.

Ich habe mit Polyamoren gesprochen, die gesagt haben: Eigentlich sind wir alle polyamor, es gibt halt nur die Leute, die es sich eingestehen und es gibt die Leute, die trotzdem versuchen in einer klassischen Beziehung zu leben. Teilen Sie diese Auffassung?

Die Gretchenfrage ist immer: Muss ich für Liebe mit jemandem in die Kiste steigen oder kann ich liebevolle Beziehungen auch zu Freunden aufbauen? Die Gefahr beim Dialog von monoamoren und polyamoren Menschen besteht immer darin, dass ein Kampf um die wahre Natur des Menschen aufgemacht wird. Das finde ich nicht so konstruktiv. Natürlich gibt es bestimmte Grenzen, aber der Eine mag lieber diese Struktur und der Nächste lieber eine andere. Wenn man einmal in sich reinschaut, ist da ganz viel Liebe möglich, zu vielen verschiedenen Menschen. Ich darf nicht nur meinem Partner diesen Gedanken an Liebe entgegenbringen, sondern auch anderen Menschen.

Eifersucht spielt ja in vielen Beziehungen eine Rolle, auch in polyamoren. Woher kommt Eifersucht?

Eifersucht ist die Angst davor, dass ich in irgendeiner Weise zurückgesetzt bin. Dass die Bindung so locker werden könnte, dass ich nicht mehr wichtig bin. An der Oberfläche spürt man manchmal gar nicht die Angst, sondern eher Wut. Denn Wut ist definiert als ein Zustand, bei dem mir Ressourcen weggenommen werden, die mir eigentlich zustehen. Die zentrale Frage, die sich Eifersüchtige stellen, ist: Wie weit gehöre ich noch zum Kern der Beziehung? In einer Paarbeziehung lässt sich das relativ leicht eingrenzen, in polyamorösen Beziehungen lautet die Frage eher: In wie weit bin ich noch gleichwertig mit den anderen?

Kann Eifersucht denn auch positiv sein für eine Beziehung?

In einem gewissen Maß ist Eifersucht auf jedenfall gesund. Man kann sich das so überlegen: Wenn es überhaupt keine Eifersucht geben würde, hätte die Beziehung etwas sehr beliebiges. Dann würde ich ja sagen: Joar, mein Partner der schläft gerade mit jemand anderem, na und? Schwierig wird’s, wenn die Eifersucht ein Selbstläufer wird. Wenn das freundliche Wort zur Kassiererin sofort zur Alarmstufe rot führt.

Hat die Natur den Menschen überhaupt dafür gemacht, langfristig treu zu sein?

Das lässt sich nicht endgültig beantworten. Einige Menschen schaffen es, andere nicht. Es passt also scheinbar beides zur Natur des Menschen.

Aktuell liegt die Scheidungsrate in Deutschland bei beinahe 40 Prozent. 1960 waren es gerade einmal 10 Prozent. Hat die Ehe heutzutage keinen Bestand mehr?

Das klassische Ehe-Modell ist heute so funktional wie eh und je, viele Menschen sehnen sich sogar danach, dieses Modell zu verwirklichen. Es müssen nur mehr Fragen beantwortet werden als früher, vor allem die Frage, wie die Beziehung auf Augenhöhe gestaltet werden kann.

Woher kommt diese Veränderung?

Die Geschlechterrollen haben sich gewandelt. Früher, mit dem klassischen Modell, konnte man nicht viel falsch machen. Da hatte die Frau ihren festen Platz zu Hause und der Mann seinen festen Platz bei der Arbeit. Heute sind wir einerseits zwar freier geworden, andererseits ist dadurch aber vieles komplizierter geworden, weil Beziehungen viel mehr Verhandlung brauchen. 

Was ist denn die wichtigste Bedingung für eine erfolgreiche Beziehung, in welcher Form auch immer?

Fehlerfreundlichkeit ist ganz wichtig: Weder von mir noch von meinem Partner kann ich dieses perfektionistische Bild einfordern, dass ich mir während der Verliebtheit gemacht habe.

Also kann es sogar besser sein, die Ansprüche zurückzuschrauben und zu sagen:  Mein Partner kann mir eben nicht alles geben?

Genau. Er kann mir nicht alles geben. Das ist so ein paradiesischer Traum, dass ich alles bekommen muss. Aber Reife heißt eben auch zu wissen, dass ich nicht perfekt bin, dass mein Partner nicht perfekt ist, und dass ich trotzdem mein Selbstwertgefühl als nicht-perfekter Mensch behalten kann. Mit meiner langen Nase oder was auch immer. Und damit sozusagen im Menschsein überhaupt erst mal ankomme. Wir sind voller Fehler und voller Ecken und Kanten, das muss ich auch bei meinem Partner akzeptieren.

Vielen Dank für das Gespräch. 

 
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