Ein gefährliches Doppelleben

Abscheu, Wut und Ekel – Homosexuelle kennen diese Reaktionen auf ihr Ich nur zu gut. Gerade Jugendliche flüchten sich aus Furcht in ein gefährliches Doppelleben. Eine psychische Belastung, der nicht jeder standhält.

"Man trägt einfach immer eine schwere Last auf dem Rücken." Es hat Jahre gebraucht, bis Patrick zu sich selbst stehen konnte. Seine Homosexualität öffentlich zu thematisieren, bereitet ihm trotzdem noch immer Unbehagen. Foto: Giesbers

„Man trägt einfach immer eine schwere Last auf dem Rücken.“ Es hat Jahre gebraucht, bis Patrick zu sich selbst stehen konnte. Seine Homosexualität öffentlich zu thematisieren, bereitet ihm trotzdem noch immer Unbehagen. Foto: Giesbers

 

„Was glotzt du denn immer Jan an? – Hat der was im Gesicht?“. „Ich mache doch gar nichts“, erklärt sich Patrick seinen Freundinnen. Er ist groß und schlank, läuft aber gebückt, den Blick nach unten gerichtet. Seine Freundinnen strahlen. Die Mitschüler, die ihnen entgegen kommen, beachtet Patrick kaum. Langsam gehen sie an der Jungsgruppe vorbei, zu der Patrick seit Wochen rüberstarrt. In ihrer Mitte, ein großer, sportlicher Junge. Jan hat feine Gesichtszüge und tiefe, grüne Augen. Patrick ist verliebt in Jan. Wissen tut das niemand.

Durch die zwei großen Türen dringt bereits der Lärm vom Schulhof.  Die Patrick und seine Freundinnen wollen zum Tor, um eine zu rauchen. Plötzlich knallt es durch die Luft. Das Wort, das seinen Atem stocken lässt. „Schwuchtel!“.

Patricks Blick schnellt hoch, er wird rot. Der Ausruf galt nicht ihm: „Ach, nur der Max. Ja bei dem ist’s ja kein Wunder. Von dem weiß ja jeder, dass der schwul ist.“ Dabei fühlt auch Patrick so. Er selbst weiß es, würde es aber nie zugeben. Sich auch outen, so wie Max, niemals.

Die große Hürde Outing

Die Angst vor dem eigenen Outing ist jedem Schwulen bekannt. Es ist die größte Hürde im Leben, die es zu überwinden gilt. Will man wirklich sein, wer man ist, führt kein Weg daran vorbei.

Jürgen Rausch vom Sunrise, einem Dortmunder Treff für homosexuelle Jugendliche, kennt diese Probleme. Für Jugendliche ist seine Einrichtung der erste Anlaufpunkt. „Zu uns flüchten sich viele, die in ihrem Umfeld noch nicht geoutet sind. Da werden dann Freundinnen erfunden, Geschichten erlogen. Manche führen tatsächlich zwei Leben.“ Wie gefährlich es sein kann, seine Sexualität heimlich auszuleben, weiß Rausch genau. „Ich weiß von einem Jungen, der bei einem heimlichen Treffen vergewaltigt wurde. Niemand wusste, wo er war.“

„Ich bin schwul.“ Diese Worte hat auch Patrick lange nicht laut sagen, nicht einmal denken wollen. Heute ist Patrick 26. Jeder, der ihn fragt, bekommt die gleiche Antwort. „Ich stehe auf Männer, da drüben steht mein Freund.“ Heute ist Patrick glücklich mit seinem Leben. Es gehe ihm gut, sagt er. Lange war das aber anders. Erst vor zwei Jahren hat Patrick den Mut gefunden, seinem Umfeld mitzuteilen, wie er fühlt, wen er liebt. Dabei war ihm das schon knapp zehn Jahre zuvor bewusst. Zehn Jahre Doppelleben.

Der Schulhof wird zur Folterkammer

„Während meiner Schulzeit habe ich niemandem von meiner Homosexualität erzählt. Schüler können da einfach unangenehm sein“, sagt Patrick. Laut einer nichtrepräsentativen Studie des Niedersächsischen Sozialministeriums erlebt knapp ein Drittel der homosexuellen Jugendlichen direkte Beschimpfungen in der Schule. Dabei erfährt aber nur jeder fünfte homosexuelle Jugendliche, von seinem Lehrer in Schutz genommen zu werden. Schwuchtel, das ist noch immer das meist genutzte Schimpfwort auf deutschen Schulhöfen. Es zielt direkt in die Seele der Jugendlichen. Ihr ganzes Selbst wird in Frage gestellt. Mitten in einer Zeit, in der sich selbst bewusst werden ohnehin eine große Belastung ist. Denn die Selbstwahrnehmung als homosexuelles Ich beginnt zumeist mit der Pubertät. Es gibt kaum verlässliche statistische Untersuchungen, überhaupt ist die Forschungslage zum Leben von Homosexuellen desolat. Aus der Untersuchung des Niedersächsischen Sozialministeriums geht hervor, dass das Outing heute meist zwischen dem 14. und dem 17. Lebensjahr stattfindet. Ein Outing in diesem Alter ist keine Selbstverständlichkeit und wird als erheblicher Stressfaktor wahrgenommen. Die Erkenntnis, einer sexuellen Minderheit anzugehören, ist auch heute noch mit Gefühlen wie Furcht und Angst behaftet. Dies geht aus Studien hervor, die von den Wissenschaftlern Uwe Sielert und Stefan Timmermanns in einer breitangelegten Untersuchung zur Lebenssituation von Schwulen und Lesben in Deutschland zusammengetragen wurden.

„Man trägt halt einfach immer eine Last auf den Schultern“, erklärt Patrick sich. Im Vergleich sehr spät, erst mit Mitte 20, hat er die Kraft und den Mut gefunden, sich seinem Umfeld mitzuteilen. „Meine Freunde haben eigentlich alle durchweg positiv reagiert. Die haben gar nicht verstanden, warum ich damit selbst so ein großes Problem hatte. Aber das Outing war für mich eben nicht einfach.“

Ein großer Teil der Jugendlichen im Sunrise ist durch den psychischen Stress belastet. „Wir erleben sie hier deprimiert, teils depressiv“, erzählt der Leiter Jürgen Rausch. „Immer wieder höre ich von Selbstmordgedanken, manchmal auch von zum Glück gescheiterten Versuchen.“ Tatsächlich zeigt eine Studie aus dem Jahr 2001, die vom Niedersächsischen Familienministerium in Auftrag gegeben wurde, dass knapp 45 % Prozent der befragten homosexuellen Jugendlichen mindestens einmal in ihrem noch jungen Leben an Selbstmord dachten. Knapp jeder zehnte von ihnen hat ernsthaft versucht, sich das Leben zu nehmen.

Gewalterfahrung seit frühester Jugend

Homosexuelle Jugendliche erleben häufig Gewalt, die sich ausschließlich gegen ihre sexuelle Orientierung richtet. Studien belegen, dass zwei Drittel der Betroffenen unter Beschimpfungen und Anfeindungen zu leiden haben. Jeder Vierte musste psychologische Hilfe in Anspruch nehmen, um mit den Belastungen klar zu kommen. Das größte Problem der Jugendlichen ist dabei die Einsamkeit. Sich niemandem mitteilen zu können, weder Freunden noch der Familie, macht krank.

Es ist der Auftrag des Jugendtreffs Sunrise, diesen Jugendlichen zu helfen. Man will sie auffangen. „Ein Outing ist vor allem Arbeit an der eigenen Identität“, sagt Jürgen Rausch. „Es gibt keinen Königsweg dafür. Jeder muss für sich individuell den richtigen Weg finden.“

Patrick hat das getan. Nachdem seine Freunde ihn angenommen haben, wie er ist, hat er den Mut gefunden, seiner Mutter von sich und seinem Freund zu erzählen. „Sie war überrascht, ein bisschen schockiert. Aber nicht negativ. Sie hat nur Zeit gebraucht, um das zu verstehen. Jetzt hat meine Mutter damit gar kein Problem mehr.“

Heute ist Patrick glücklich: „Ich bin heute befreit von der Last“, sagt er. Patrick lebt sein Leben. Kein Verstecken, keine Lügen mehr.

 
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