Sekten-Expertin: „Keiner von ihnen ist ein schlechter Mensch“

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Für Mitglieder von Sekten ist der Ausstieg oft sehr schwer. Wir haben mit einer Expertin über das Thema gesprochen. Foto: flickr.com/d76

Sekten, Glaubensgemeinschaften, neureligiöse Gruppen. Bei diesen Stichworten hat jeder seine ganz eigenen Vorurteile im Kopf. Doch mit der Wahrheit stimmen diese häufig nur zum Teil überein. Im Interview spricht Sabine Riede, Leiterin der Beratungsstelle des Essener Vereins Sekten-Info-NRW, über ihre Erfahrungen mit Sektenaussteigern. Und darüber, warum es so schwer ist, solch eine Gruppe zu verlassen.

Frau Riede, seit vielen Jahren beschäftigen Sie sich mit Sekten. Was ist eine Sekte überhaupt?
Das ist nicht so einfach zu sagen, da es viele verschiedene Definitionen gibt. Soziologisch gesehen ist eine Sekte eine Glaubensgemeinschaft, die sich vom „Mainstream“ abhebt. Theologisch ist es eine Gemeinschaft, deren Lehren nicht mit denen der katholischen und evangelischen Kirche vereinbar sind. Wir in der Beratungsstelle versuchen aber, den Begriff zu vermeiden und sprechen –  ganz wertneutral – von Glaubensgemeinschaften.

Aber sind nicht auch katholische oder evangelische Gruppierungen Glaubensgemeinschaften?
Ja, deshalb überprüfen wir Glaubensgemeinschaften auf Konfliktpotenzial. Zunächst versuchen wir abzuklären, ob die Lehren der Gemeinschaften mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Danach kontrollieren wir, ob es gesundheitliche Schäden für die Mitglieder gibt oder ob diese unter starkem psychischen Druck stehen. Schließlich überprüfen wir, ob die Mitgliedschaft in den Gemeinschaften andere Bereiche des Lebens negativ beeinflusst.

Wie kann solch eine Gruppe das Leben denn konkret beeinflussen?

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Sabine Riede leitet die Beratungsstelle des Vereins Sekten-Info-NRW in Essen. Foto: Sekten-Info-NRW

Das ist zum Beispiel auch dann der Fall, wenn die Mitglieder ungewöhnlich viel Geld zahlen müssen. Uns geht es aber nicht darum, die Glaubensgemeinschaften mit Konfliktpotential zu verbieten. Schließlich darf in Deutschland jeder glauben, was er möchte. Aber es darf eben nicht jeder machen, was er möchte. Und hier ist es unsere Aufgabe, auf etwaige Probleme hinzuweisen und Betroffenen zu helfen.

Wie ist die Lage auf – wie Sie sagen – Glaubensgemeinschaften mit Konfliktpotential bezogen in Deutschland?
So ganz genau kann ich das nicht sagen. Es gibt viele kleine Gruppierungen um vermeintliche Heiler oder ähnliches, über die wir nicht genau Bescheid wissen. Wir gehen aber zum Beispiel davon aus, dass es in Deutschland rund 5.000 eingeschworene Scientologen, also Mitglieder bei Scientology, gibt.

Warum treten Menschen Gruppierungen wie Scientology bei?
Meist sind das Menschen, die sich in einer schweren Phase ihres Lebens befinden. In diesen bieten die Gruppierungen dann Hilfe an. Scientology betreibt beispielsweise das Hilfsprojekt „Sag nein zu Drogen, sag ja zum Leben“, das versucht, Drogenabhängigen zu helfen. Den Betroffenen ist zunächst gar nicht klar, dass hinter solchen Hilfsangeboten eigentlich religiöse Gemeinschaften stecken. Wenn sie das dann merken, sind sie der Gruppe schon nahe, fühlen sich dort geborgen und bleiben.

Und warum ist es später so schwer, die Gemeinschaft wieder zu verlassen?
Grundsätzlich kann man sagen, dass es immer schwieriger wird, je länger die Menschen in der Gemeinschaft waren. Sie werden immer mehr auf Linie gebracht und verändern sich im Sinn der Gruppierung. Draußen finden sie sich dann nichtmehr zurecht, haben dort auch oft keine Kontakte mehr. Und weil sie nicht wissen was sie machen sollen, bleiben sie. Außerdem behaupten viele Gemeinschaften, dass es nach dem Ausstieg kein glückliches Leben mehr gäbe, dass die Menschen krank werden würden oder dass sie verloren seien.

Wie können Sie Aussteigern helfen?
Durch Gespräche versuchen wir, den Menschen eine Rückkehr in ihr normales Leben zu ermöglichen. Das ist mit einer Therapie zu vergleichen, deshalb hat jeder unserer Mitarbeiter eine therapeutische Zusatzausbildung. Wir sind für die Betroffenen da, unterstützen sie. Ganz wichtig ist es für uns dabei immer im Kopf zu behalten, dass kein Mitglied einer solchen Gruppierung ein schlechter Mensch ist. Denn sie glauben ja wirklich an das, was sie tun. Sie sind davon überzeugt, dass sie richtig handeln.

Mehr zum Thema Sekten und Sektenausstieg lest ihr in der aktuellen Printausgabe der pflichtlektüre. Dort berichten zwei Aussteiger von ihren Erfahrungen mit Scientology und den Zeugen Jehovas.

Beitragsbild: flickr.com/d76

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