Stell dir vor, dein Handy wird geklaut …

Es ist kurz vor neun Uhr abends. Ich sitze im Zug zu meinem Freund, gleich muss ich umsteigen. Eine Nachricht von ihm ploppt auf meinem Handy auf: „Sag mir Bescheid, wenn du im nächsten Zug bist.“ Er möchte mich vom Bahnhof abholen, denn ich weiß nicht genau, wo ich hin muss. Dann wechsle ich den Zug. Der Anschluss passt perfekt, ich muss nicht lange warten. Bis hierhin läuft alles super, denke ich mir.

Ich steige ein, setze mich hin. Jetzt muss ich nur noch kurz Bescheid sagen, und in einer halben Stunde kann ich meinen Freund in die Arme schließen. Ich krame in meiner Jackentasche, schaue in meinem Rucksack, aber nirgendwo finde ich mein Handy. So langsam ergreift mich die Panik. Ich wühle erneut durch meinen kompletten Rucksack, drehe jede Jackentasche zweimal um, aber nichts. Es ist weg. Mein erster Gedanke: Scheiße! Dann: Wie sag ich denn jetzt Bescheid? Ich weiß die Nummer meines Freundes nicht mal auswendig.

Ich versuche mich zu beruhigen. Mein Bruder hat die Nummer, ich kann zu Hause anrufen. Immerhin diese Nummer weiß ich. Glücklicherweise sitze ich nicht alleine im Zug. Die zweite Frau, die ich frage, leiht mir ihr Handy. Mein Bruder ist zu Hause, ich kann ihm alles erklären, er sagt meinem Freund Bescheid. Am Bahnhof angekommen sehe ich ihn schon auf mich warten. Zum Glück hat alles geklappt

Aber jetzt geht der ganze Trubel erst richtig los: SIM Karte sperren, das Google-Konto vom Handy löschen, Passwörter ändern – wer weiß, wer mein Handy gefunden hat. Dann, am nächsten Tag, ein neues Problem: Ich soll abends babysitten – nur wann, haben wir noch nicht geklärt. Auf meine Mail bekomme ich keine Antwort. Und im Telefonbuch steht die Nummer der Familie auch nicht. Also fahre ich auf gut Glück hin. Die Tochter öffnet mir die Tür: „Papa hat dir doch Bescheid gesagt, dass du nicht kommen brauchst.“ So ein Mist.

Seit ich mein Handy verloren habe, realisiere ich, wie abhängig ich von meinem Handy bin.

Wissenschaftlich belegen lässt sich das kaum, sagt der Forscher Alexander Markowetz von der Uni Bonn. Einen festen Punkt, ab dem man als abhängig gilt, gibt es nicht. Markowetz vergleicht die Handy-Sucht mit einer Alkohol-Sucht: Nicht jeder, der sechs Bier am Tag trinkt, ist gleich abhängig. Aber ein anderer, der vielleicht nur drei Bier am Tag leert, kann sofort Symptome einer Abhängigkeit zeigen. Solange jedoch die eigene Gesundheit und soziale Beziehungen nicht leiden, sei man in der Regel nicht abhängig, sagt der Forscher. Unter einer akuten Sucht leiden demnach etwa drei Prozent der Deutschen.

Gehöre ich zu diesen drei Prozent, frage ich mich? Viel zu oft lasse ich mein Handy im Vibrations-Modus und gucke bei jeder Nachricht wenigstens einmal kurz, was los ist. Und wenn ich dann eigentlich etwas tun möchte, komme ich wegen des Handys nicht wirklich voran.

Markowetz kennt diese Symptome. Sie seien typisch für Menschen, die ihr Handy viel zu viel nutzen und dadurch auch eingeschränkt sind. An sich sei das nicht schlimm, sagt er. „Aber wenn es ganz vielen Menschen so geht, summiert sich das“, sagt er. Und dann leide die „Volksproduktivität“ und die „Volksgesundheit“. Dieser Prozess ist laut des Forschers bereits weit fortgeschritten. „Wir laufen als Gesellschaft ein bisschen blind rum. Wir merken, dass wir ein Problem haben, und suchen nach einer Lösung.“ Aber die gebe es nicht. „Der Weg raus fehlt noch“, sagt der Bonner Forscher.

Für mich selbst funktioniert es, wenn ich mir beim Lernen zum Beispiel einfach einen Wecker stelle. Bis der geklingelt hat, mache ich nichts anderes und auch das Handy bleibt ausgeschaltet. Auch unterwegs bleibt es manchmal einfach in der inneren Jackentasche. So überliste ich mich selbst: Ich kann es nicht so leicht rausholen.

Doch das funktioniert längst nicht bei allen, sagt Markowetz. Es gebe nicht „die eine Möglichkeit“ wie bei Alkoholikern, die nach einer Zeit der Abstinenz als trocken gelten. Schließlich würde man die betroffenen Menschen dann komplett aus der Gesellschaft ausschließen. Markowetz empfiehlt stattdessen, „digital vegan“ zu leben. Dabei versucht man, die eigene Handynutzung zu reduzieren, ohne vollständig auf das Handy zu verzichten. Man müsse sich nur immer wieder das Reiz-Reaktionsmuster „Mir ist langweilig – zack, schaue ich auf mein Handy“ oder „Ich stehe an der Bushaltestelle – zack, schaue ich auf mein Handy“ bewusst machen und es gezielt durchbrechen.

Durchbrochen habe ich es jetzt auf jeden Fall – wenn auch eher unfreiwillig. Aber früher hat es ohne Handy ja auch funktioniert. Dann wird es doch wohl möglich sein, die eigene Handynutzung unter Kontrolle zu bringen. Ich bin gespannt, wie lange es bei mir funktioniert – und ob der Trend, „digital vegan“ zu leben, sich ähnlich schnell verbreiten wird wie der Ernährungstrend.

 

Beitragsbild: Nicolas Nova bei Flickr. Lizensiert nach Creative Commons 2.0 Generic.

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