Ausgestiegen — Wege aus dem Salafismus

Ein aufgeklebter Schnurrbart, eine blonde Perücke im Vokuhila-Schnitt. Das Gesicht stark geschminkt, darüber eine Brille mit dicken Gläsern. Dazu einen Anzug über einem künstlich dickeren Bauch. Anil O. muss sich verkleiden, bei seinen Verhandlungen vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf. Denn Anil O. war ein Salafist. Jetzt ist er ausgestiegen. Wie eine solche Deradikalisierung funktionieren kann, möchten wir an seinem Beispiel erklären.

Bis zum vergangenen Dienstag stand Anil O. vor Gericht. Ihm wurde vorgeworfen, Mitglied einer terroristischen Organisation gewesen zu sein. Denn Anil war Salafist und reiste zum „IS“ nach Syrien, um dort als Mediziner zu helfen. Vor Gericht war er geständig und bekam eine Bewährungsstrafe. Er ist gut davongekommen, denn: Anil möchte nun aussagen – gegen den „IS“. Damit begibt er sich in sehr große Gefahr. Als Aussteiger gilt er als „Verräter“ und zieht somit großen Hass innerhalb der Szene auf sich. Vor allem, weil er bereits mit Aussagen in seiner ersten Vernehmung im September 2016 zu der Festnahme der Nummer eins des IS in Deutschland beitrug. Das ist einer der Gründe, weshalb es sehr schwierig ist, mit Aussteigern zu reden. Durch einen öffentlichen Auftritt ziehen sie noch mehr Aufmerksamkeit auf sich. Deshalb können wir Anils Weg nur nachzeichnen.

Anil hat ein scheinbar perfektes Leben: Er schließt als einer der besten seiner Heimatstadt das Abitur mit einem Notendurchschnitt von 1,0 ab. Er heiratet seine Jugendliebe und bekommt einen Sohn. Er beginnt, Medizin zu studieren. Doch schon in der Schule lernte er Menschen kennen, die er heute vermutlich nicht mehr als seine Freunde bezeichnen würde. Damals fühlte er sich bei ihnen sehr wohl. Seine Freunde nahmen ihn oft zu Treffen mit, er stand auch in der Fußgängerzone, verteilte Korane und half bei der „Lies“-Aktion. Durch seine Freunde gerät er immer tiefer in die salafistischen Kreise. Anil wird einer von rund 2900 Salafisten, die es nach Schätzungen des Verfassungsschutzes in NRW gibt. Etwa 700 von ihnen gelten als gewaltbereit.

Vier Wege in die Radikalisierung

So wie Anil geht es vielen. Wie Dierk Borstel, Professor an der Fachhochschule Dortmund und Mitbegründer der Aussteigerorganisation „Exit“ im Interview sagt, radikalisieren sich die meisten Menschen durch ihre Peer Group. Vor allem in der Pubertät ist das ein häufiges Muster: Die Eltern und Lehrer haben immer weniger zu sagen, der Freundeskreis gerät stärker in den Fokus der jungen Menschen. Wenn dieser dann schon aus radikalisierten Menschen besteht, beginnt mit wachsender Freundschaft auch der Radikalisierungsprozess.

Das ist jedoch nicht der einzige Weg: Es gibt insgesamt vier Grundmuster, die mehr oder weniger auf ideologisierte Menschen zutreffen. Laut Borstel radikalisieren sich Menschen auch über die Erziehung, bei der ihnen bestimmte Ansichten antrainiert werden. Es gibt jedoch auch den eher „verkopften“ Weg, bei dem Menschen die Gesellschaft als ungerecht ansehen und deshalb nach einer Alternative suchen. Der vierte Weg ist der, über den Forscher wie Borstel am wenigsten wissen: Über Verschwörungstheorien „stürzen“ sich Menschen immer mehr in die Radikalisierung. Egal, ob Salafist, Rechts-, oder Linksextremist – bei allen sind ähnliche Muster zu finden. Wobei bei dem Salafismus die Religion natürlich auch ein wichtiger Faktor und Selektionskriterium ist.

Die Radikalisierung über die Peer Group geht schnell. Es dauert oft nur drei bis sechs Monate, bis die ersten Einstellungen der Gruppe übernommen werden.Und so kommt es Anfang August 2015 zu Anils Ausreise nach Syrien. Zur Eingewöhnung kommt er in die Islamistenhochburg Raqqa. Dort merkt er schnell: Das möchte er nicht. Die Bombeneinschläge um ihn herum, vielleicht aber auch die 10-jährige Sex-Sklavin, die der „IS“ ihm zur Verfügung stellt, das alles passt doch nicht zu dem, was er sich vorgestellt hatte. Also versucht er zu fliehen. Über die Türkei, in der er auch zwischenzeitlich festgenommen wird, kommt er so im September 2016 nach Deutschland zurück. Als er hier ankommt, ist er sich sicher: Er will nie wieder Salafist sein!

So wie bei Anil läuft es allerdings nicht immer: Nicht jeder, der aus der salafistischen Szene aussteigt, schafft das aus eigener Kraft. Und deshalb gibt es Aussteigerprogramme wie Exit, den „Wegweiser“, ein Präventionsangebot, das in Kooperation mit dem Verfassungsschutz in verschiedenen Städten vor Ort ist, oder das Aussteigerprogramm Islamismus“ des Innenministeriums NRW. Dort können Ausstiegswillige Hilfe suchen. Doch wenn sich diese nicht melden, werden die Mitarbeiter der Ausstiegsprogramme auch selbst aktiv. Das bedeutet, Salafisten, die beispielsweise im Gefängnis sitzen, werden gezielt angesprochen, um herauszufinden, ob diese Menschen nicht doch an ihrer Ideologie zweifeln. Dieser Teil macht beim Programm des Innenministeriums laut Sebastian Kulmbach, dem Referenten der Aussteigerprogramme des Verfassungsschutzes NRW, jedoch gerade einmal einen Viertel aller Fälle aus. Die Arbeit in solchen Programmen kann nicht verallgemeinernd beschrieben werden. Jeder Aussteiger geht dort einen eigenen Weg. Das wichtigste hierbei ist laut Kulmbach vor allem Kommunikation auf Augenhöhe. Denn Deradikalisierung funktioniere nur, wenn sie freiwillig geschieht.

Hilfe zur Selbsthilfe

Deradikalisierung soll jedoch nicht nur helfen, die Ansichten der Menschen zu verändern. Sie hat immer auch zur Aufgabe, den Menschen wieder zurück in ihren Alltag zu helfen. Borstel beschreibt es so:

 

Denn oft haben die Menschen vor ihrer Radikalisierung Probleme im Alltag gehabt und daraus Auswege gesucht. Diese Probleme haben sich natürlich nicht von alleine gelöst. Außerdem gelten Menschen wie Anil als „Verräter“ in der Szene und sind deshalb in Gefahr. Wann Anil wieder ein normales Leben führen kann, ist noch nicht klar. Derzeit befindet er sich an einem geheimen Ort, versteckt sich und ist im Zeugenschutzprogramm aufgenommen. Auch um wieder in ein normales Leben einzusteigen, helfen Aussteigerprogramme.

Kulmbach sieht, dass es nicht einfach ist, so den Salafismus gänzlich zu besiegen. Doch eine Bestätigung seiner Arbeit ist, dass alleine das Aussteigerprogramm Islamismus mit knapp 110 Fällen in nur zwei Jahren arbeitet.

Anil will nun als Beispiel vorangehen. Auch, wenn er vor Gericht niemals sein wahres Gesicht zeigen kann, will er auch einen Beitrag zur Bekämpfung des Salafismus und des „IS“ zu leisten. So, wie es auch die Aussteigerprogramme und Deradikalisierungsstellen tun.

Wo bekomme ich Hilfe in Dortmund?

Der Wegweiser hat seit 2014 auch in Dortmund eine Anlaufstelle. Dort werden vor allem Präventionskurse angeboten. Außerdem berät der Wegweiser, wenn jemand befürchtet, im Umfeld eine gefährdete Person zu kennen. Jeder Ratsuchende kann sich dort melden.

Nähere Informationen sind zu finden unter www.wegweiser-dortmund.de oder unter der Hotline 0231/53214614.

 

 

 

Beitragsbild: Christiaan Triebert/Flickr (lizensiert nach CreativeCommons)

Aufmacherbild: Jean Pierre Hintze/Flickr (lizensiert nach CreativeCommons)——

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