Fernando Bermudez: 18 Jahre lang unschuldig im Gefängnis

Freiheit. Für Fernando Bermudez bedeutet das in erster Linie Verantwortung. Verantwortung, den Wert des Lebens zu erkennen, die Möglichkeiten zu schätzen, die ein Leben in Freiheit bietet. Denn  eine Selbstverständlichkeit ist Freiheit für Fernando Bermudez nicht. Nicht mehr.

Seine Geschichte erzählt er glücklich: Fernando Bermudez ist sein eigener Hoffnungsträger. Fotos (5): Maike Knorre

Seine Geschichte erzählt er glücklich: Fernando Bermudez ist sein eigener Hoffnungsträger.

Es war eine Sommernacht im August 1991. Fernando Bermudez, 22 Jahre, Collegeabsolvent und Student, ist mit Schulfreunden unterwegs. Sie trinken, lachen über alte Zeiten, blicken in eine verheißungsvolle Zukunft. Meilen entfernt hallt ein Schuss durch die Gassen von New York City, beendet eine Streiterei vor einem Nachtclub in Greenwich Village. Der 16-jährige Raymond Blount liegt tot auf der Straße. Seine Freunde zeigen später auf der Polizeiwache auf Fernandos Foto.

Statt in der Uni sitzt Fernando Bermudez plötzlich auf einer Holzbank in einem New Yorker Gefängnis, in grüner Sträflingskleidung, mit kahlrasiertem Schädel. „One call only“ – nur ein Telefonat. Dass er unschuldig ist, will niemand hören.

Nahezu sein halbes Leben hat der heute 43-Jährige in Haft verbracht. 18 Jahre saß er hinter Gittern, eines Mordes beschuldigt, den er nie begangen hat. Zehn Mal ging Fernando Bermudez in New York vor Gericht in Berufung, beteuerte felsenfest seine Unschuld, zehn Mal erfolglos. Der elfte Versuch brachte ihm schließlich die Freiheit, seit November 2009 ist er zu Hause bei seiner Frau Crystal und den drei gemeinsamen Kindern.

Er fordert 30 Millionen Dollar als Wiedergutmachung

Auch als freier Mann geht sein Kampf gegen das US-amerikanische Rechtssystem weiter: Gut ein Jahr nach seiner Entlastung reicht Bermudez eine 30 Millionen Dollar schwere Klage gegen die Stadt und den Bundesstaat New York ein, bemüht sich um Aufklärung. Während seiner Vortragsreisen durch die Vereinigten Staaten besucht er Universitäten und Polizeischulen des Landes, ruft zu sorgfältiger Justizarbeit auf. Denn Fehlurteile und unschuldig Inhaftierte sind in den USA keine Seltenheit.

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Professor Thomas Feltes (rechts) und Fernando Bermudez nehmen nach dem Vortrag Fragen der Kriminologiestudenten entgegen.

Der Lehrstuhl für Kriminologie der Ruhr-Universität Bochum (RUB) beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Problematik von Justizirrtümern, die laut dem Leiter, Professor Thomas Feltes, ebenfalls in Deutschland ein Thema sind. „Der Umfang ist nur ein anderer: In Deutschland haben wir eine besser arbeitende Polizei und eine kritischere Justiz“, sagt Feltes zu Pflichtlektüre Online. Dennoch seien die Hauptgründe für Fehlurteile die gleichen. „Zum einen legt sich die Polizei bei ihren Ermittlungen zu früh auf einen Verdächtigen fest, zum anderen werden ‚falsche‘ Zeugenaussagen nicht hinreichend angezweifelt.“

„Niemand soll mehr durchmachen, was mir widerfahren ist.“

Bermudez trägt ein lachsfarbenes Leinensakko über dem weißen Hemd, Lippenbärtchen und legt seine Stirn in Denkfalten. Der Ex-Häftling erzählt mit großen Gesten und lauter Stimme von seinen Ängsten im Arrest, der ebenso schwierigen Zeit danach und seinem Wunsch, die Welt ein bisschen besser zu machen. „Ich will, dass niemand mehr durchmachen muss, was mir widerfahren ist“, sagt Bermudez im Interview mit Pflichtlektüre Online. „Ich will in meinen Vorträgen die Menschenrechte hervorheben, mich dafür einsetzen, das System zu ändern.“

Fernando Bermudez - Motivational speaker, Educator" steht auf der Rückseite seiner Visitenkarte.

"Fernando Bermudez - Motivational speaker, Educator" steht auf der Rückseite seiner Visitenkarte. Fotos (5+Teaserbild): Maike Knorre

Bermudez erzählt seine Geschichte als glücklicher Mann. Der Moment der Festnahme, damals im August 1991, sei die bizarrste und ängstigendste Erfahrung seines Lebens gewesen. „Trotzdem war ich voller Hoffnung, dass das alles nur ein Fehler war.“ Im Gefängnis habe er Leute sterben sehen – vor seinen Augen erschossen oder gehängt. Manchmal habe er Zweifel gehabt, ob er den nächsten Tag erleben werde. „Aber ich habe nie die Hoffnung und den Glauben in das Gute aufgegeben.“ Bereits während der Haft bereitete Bermudez sich darauf vor, die Geschichte seines Fehlurteils einmal an die Öffentlichkeit zu tragen, hörte Sprachkassetten, feilte an der Betonung, strebte danach, ein guter Redner zu werden. Ein Optimist in jeder Lage? Er will es glauben machen.

Seine Unterstützer arbeiteten ohne Bezahlung – und bewiesen seine Unschuld

Bermudez wälzte Bücher, arbeitete sich in das US-amerikanische Rechtssystem ein. „Wie ein Verrückter“ habe er aus dem Gefängnis heraus Briefe verschickt – „to somebody to hear my cry and to help me out.“ Sein Ruf wurde erhört: Ein Journalist, ein Anwalt und ehemalige Polizisten halfen ihm, seine Unschuld zu beweisen. Sein „Defense Team“ arbeitete pro bono – ohne jede Bezahlung, prüfte die angeblichen Beweise und betrieb die Investigation, die von der Justiz anscheinend gescheut wurde. Mit Erfolg: 2009 hob der New Yorker Richter John Cataldo das Urteil von 1991 auf, räumte eine illegale Ermittlungsprozedur und das Fehlverhalten von Polizei sowie Staatsanwaltschaft ein.

Die Zeugen des Mordes am 16-jährigen Raymond Blount widerriefen ihre Aussagen. Sie behaupteten sogar, sie seien von den zuständigen Polizisten gedrängt worden, Bermudez als den Mörder zu identifizieren. Richter Cataldo habe sich als einziger bei ihm entschuldigt. „Ich wünsche Ihnen eine viel bessere Zukunft“, gab er Bermudez nach der Verhandlung mit auf den Weg. „In diesem Moment war ich von Freude überwältigt. Ich fühlte, wie meine Knie nachgaben und fing an zu weinen“, erinnert sich der damals 40-Jährige. „Es war der Moment, in dem die Plastiktüte von meinem Kopf genommen wurde, die mir 18 Jahre lang das Atmen schwer gemacht hat.“

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Bei seinen Vortragsreisen immer an seiner Seite: Ehefrau Crystal Bermudez.

Die Rückkehr in die Welt nach 18 Jahren: erschreckend komisch

Was Fernando Bermudez in dem fensterlosen Hörsaal über die Zeit nach seinem Arrest erzählt, ist erschreckend komisch. Die Gesellschaft, in die er nach 18 Jahren zurückkehrte, hatte sich verändert. Handys ohne Tasten und Antenne, enge Jeans und Katy Perry waren ein Kulturschock, der erste schwarze Präsident eine Sensation. Seine Unterhose wusch der Ex-Häftling  lange Zeit unter der Dusche, nur im Kinderzimmer seines Sohnes fühlte er sich sicher – es erinnerte ihn an seine Zelle im Gefängnis. Bargeldlos bezahlen, Autofahren und Einkaufen – für Bermudez anfangs alles eine Herausforderung. „Mein Mann war nicht derselbe, als er wieder nach Hause kam, leidet auch heute noch unter hohem post-traumatischem Stress“, sagt Crystal Bermudez zu Pflichtlektüre Online. 1998 heiratet sie Fernando, nachdem sie ihn in den Nachrichten gesehen und daraufhin begonnen hatte, ihm Briefe zu schreiben. Noch heute, vier Jahre nach der Haft, machen sie und die Kinder sich Sorgen, wenn er zu lange weg bleibt.

"On a global Mission" sieht sich Fernando Bermudez. Nach seinem Auftritt an der Ruhr-Uni: tosender Applaus.

"On a global Mission" sieht sich Fernando Bermudez. Nach seinem Auftritt an der Ruhr-Uni: tosender Applaus.

Dass Bermudez immer noch einmal die Woche zum Psychiater geht, mitten in der Nacht aus Alpträumen hoch schreckt und das Klimpern eines Schlüsselbundes angstvolle Erinnerungen hervorruft, merkt man ihm bei seinem Besuch in Bochum nicht an. Sein Vortrag gleicht vielmehr einem Auftritt. Kunstpausen sind einstudiert, Lacher eingeplant. Den Blick erhoben, die Arme auf das Rednerpult gestützt ruft er mit fester Stimme zu den Studenten: „You can overcome diversity“ – ihr könnt die Ungleichheit bezwingen.

Freiheit. Für Fernando Bermudez bedeutet das in erster Linie Verantwortung. Verantwortung, den Wert des Lebens zu erkennen, ihn mitzuteilen. Den Kampf für die Freiheit hat er zu seiner Mission gemacht. Und den Einsatz für Gerechtigkeit. Das steht zumindest auf der blauen Visitenkarte, die er über den Tisch schiebt: „Justice is possible for those who fight.“

6 Comments

  • Heiko sagt:

    Ein erstklassig geschriebener Artikel – Kompliment an die Autorin.

  • Sir André sagt:

    Eine solche Tortur wünscht man nicht einmal seinem schlimmsten Feind. 18 Jahre Haft – das ist fast so lange wie die meisten Studenten, die seinem Vortrag beiwohnen durften, überhaupt leben.
    Unvorstellbar für den normalen Bürger, umso erstaunlicher, dass Fernando – zumindest nach außen hin – sich nicht vor dem Thema verschließt, sondern aktiv versucht Aufklärung zu betreiben.
    Das ganze erinnert unweigerlich an die Hiob-Geschichte aus der Bibel.

  • Maike Knorre sagt:

    Liebe „Sirs“,
    vielen Dank für den Zuspruch. Ebenso wie ihr und die Kriminologiestudenten war auch ich geschockt und beeindruckt von Fernandos Geschichte. Leider sind Justizirrtümer wie die Inhaftierung Unschuldiger nicht nur in den USA keine Seltenheit. Umso wichtiger ist es denen Gehör zu geben, die sich trauen darüber zu sprechen und der unsauberen Rechtsarbeit den Kampf ansagen.

  • Sir Jonas sagt:

    Wirklich bewegend und schockierend zugleich. Man mag es zwar nicht glauben, aber dies ist leider die traurige Wahrheit. Und genau aus diesem Grund sind Artikel wie dieser nicht nur angebracht, sondern auch dringend nötig! Eine gute Redakteursarbeit öffnet oft Augen, die ansonsten verschlossen bleiben.

  • Sir Toby sagt:

    Toller Artikel, man mag gar nicht glauben, dass so etwas in einem modernen Rechtsstaat passieren kann!

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