TU-Student in Istanbul: „Kein Wort zu Böhmermanns Schmähgedicht“

Jan Böhmermann hat es geschafft, das Dauerthema Flüchtlingskrise von Platz Eins der deutschen Medien zu verdrängen – zumindest für den Moment. Seit er am 31. März sein Schmähgedicht über Recep Tayyip Erdogan in der ZDF-Satiresendung „Neo Magazin Royale“ vorgetragen hat, diskutiert ganz Deutschland mit Nachdruck über die Presse- und Meinungsfreiheit im Land.

In der Türkei hingegen scheint sich nur einer so richtig über Böhmermanns Vortrag aufzuregen: Präsident Erdogan. Er forderte prompt die Strafverfolgung des Moderators. Und dass, obwohl er von seinem Land behauptet, es habe die freiste Presse der Welt. Dabei listet das Netzwerk Reporter ohne Grenzen die Türkei in Sachen Pressefreiheit auf Platz 149 von 180. Das Land, in dem Polizisten Redaktionen stürmen, große Medienhäuser unter staatliche Kontrolle gebracht und Journalisten bedroht werden.

Tobias Dammers in Istanbul

Tobias Dammers in Istanbul: An der privaten Bilgi University gibt es einen Yacht-Club, eine Starbucks-Filiale und einen Friseur auf dem Campus.

Die jungen Türken scheinen sich hingegen wenig um den Satiriker des deutschen Spartensenders zu scheren. TU-Journalistikstudent Tobias Dammers ist zurzeit im Erasmus-Semester in Istanbul. Seine Kommilitonen an der privaten Bilgi University Istanbul jedenfalls haben vom Fall Erdogan vs. Böhmermann nichts mitbekommen.

pflichtlektuere: Tobias, was sagen Deine türkischen Kommilitonen zu Jan Böhmermanns Schmähgedicht?

Tobias Dammers: Sie sagen gar nichts dazu, denn die ganze Geschichte ist hier meinem Empfinden nach auf dem Campus und unter den Studenten überhaupt kein Thema. Ich glaube, dass die meisten türkische Studenten an meiner Uni davon – wenn überhaupt – nur ganz am Rande etwas davon mitbekommen haben. Eine „Affäre“ ist es definitiv nicht. Ich bin noch nie aktiv darauf angesprochen worden.

Was glaubst Du, warum sie von der in Deutschland leidenschaftlich geführten Debatte nichts mitbekommen?

Die Medien haben es nicht so groß aufgegriffen. Möglicherweise um nicht weiter zu unterstreichen wie und mit welchen Worten Recep Tayyip Erdogan im deutschen Fernsehen betitelt wird. Aber das ist reine Vermutung. Vielleicht ist die Sache auch nicht „offiziell“ genug. Andere Angelegenheiten sind viel größer behandelt worden: Beispielsweise als der deutsche und insbesondere der englische Botschafter dem Prozessauftakt gegen Can Dündar (Chefredakteur der größten türkischen Zeitung) beigewohnt haben. Außerdem: „Präsidentenbeleidigung“ ist etwas, das auch hier vorkommt. Derzeit wird – laut einem Uni-Dozenten – deswegen gegen über 1000 Journalisten ermittelt.

Darum geht es in Böhmermanns Schmähgedicht
Als Reaktion auf den „Erdowie, Erdowo, Erdogan“-Song der NRD-Satire-Sendung „extra 3“ hatte Jan Böhmermann dem türkischen Präsidenten den Unterschied zwischen in Deutschland erlaubter Satire und verbotener Schmähkritik erklären wollen. In seinem Schmähgedicht geht es unter anderem um Sex mit Kindern und Tieren. In typisch ironischer Art stellte Böhmermann zwischen den Versen immer wieder klar, dass das Vorgetragene in Deutschland verboten sei. Erdogan forderte daraufhin die Strafverfolgung des Moderators – und Angela Merkel stimmte am vergangenen Freitag zu.

Wie diskutiert ihr in den Media-Kursen an der Uni über die türkische Presse?

Fast gar nicht. In einem Kurs habe ich es selber einmal aufgebracht und nachgefragt und da hatte – außer dem Dozenten – fast niemand etwas davon mitbekommen. Das war relativ früh nach Böhmermanns Schmähgedicht. Dann haben wir circa 15 Minuten damit verbracht, das Video mit türkischen oder englischen Untertiteln zu suchen, sind gescheitert, haben aufgegeben und sind zum Stoff zurückgekehrt. In allen anderen Kursen: kein einziges Wort davon.

Sind Journalisten und Regierung in der Türkei im Kampf?

Nein. Journalisten sind ja nicht vereinigt und viele (wenn nicht die meisten) arbeiten auch für regierungsnahe Medienhäuser. Die türkische Regierung ist im Kampf mit bewaffneten Kurdenorganisationen im Südosten des Landes. Viele Journalisten arbeiten für „pro-governmental“ Zeitungen oder Fernsehsender, denn dutzende Medienhäuser sind entweder staatlich gelenkt, beeinflusst oder übernommen. Diejenigen, die die Regierung kritisieren oder kurdenfreundlich berichten, werden häufig unter Druck gesetzt. Es kommt vor, dass TV-Kanälen die Ausstrahlung über Satellit verweigert wird oder das, wie kürzlich geschehen, eine der auflagenstärksten, kritischen Zeitungen kurzerhand über Nacht unter staatliche Verwaltung gestellt wird.

Hast Du selber schon schlechte Erfahrungen gemacht, etwa wenn Du auf Recherche warst?

Nein. Von der Polizei bin ich noch nie behindert worden – außer natürlich, wenn sie komplette Bereiche für die Öffentlichkeit sperren wie nach den Terroranschlägen. Spannend wird es am 1. Mai, dem „Arbeitertag“. Traditionell ein Tag mit massiven Demos und Polizeigewalt.

Wie ist Dein Eindruck von türkischen Journalisten: Haben Sie Angst um ihren Beruf?

Ältere Journalisten und Dozenten mit denen ich spreche haben große Sorge um den Beruf des Journalisten. Diese sind aber auch entschiedene, offene Gegner der aktuellen Regierung und dementsprechend eingenommen. Es stimmt aber schon, dass Journalisten hier und radikal anderen Bedingungen arbeiten als in Deutschland.

Wie viel bekommst Du davon mit?

Es ist offensichtlich, dass die Arbeitsbedingungen komplett anders sind als in Deutschland. Es gibt Verhaftungen, Druck wird ausgeübt, Terrorverdacht – und alles wegen einer Recherche. Türkische „Pressefreiheit“ ist nicht wie deutsche „Pressefreiheit“. So viel habe ich verstanden. Außerdem: Es ist offensichtlich, dass meine Nicht-Journalisten-Kommilitonen dem Journalistenberuf sehr, sehr vorsichtig gegenüber stehen. Sie glauben den Nachrichten in Zeitung und TV einfach nicht mehr, da sie wissen, dass diese staatlich gelenkt und zensiert werden.

Beitragsbild: privat

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