Freie Daten in Zement

Die Lieblingsmusik per USB-Anschluss aus einer Mauer abspielen? Keine Zukunftsvorstellung, sondern abgefahrene Realität. Das digitale Revival toter Briefkästen ist in Bochum angekommen.

Ein eingemauerter USB-Stick an der Ruhr Uni Bochum - das Überraschungsei des 21. Jahrhunderts.

Ein eingemauerter USB-Stick an der Ruhr-Uni Bochum. Foto: Michael Prieler

Dead Drops – zu deutsch: tote Briefkästen – kennt man eigentlich nur aus Agentenfilmen. Der Informant lässt zufällig einen Mikrofilm in einen Papierkorb fallen, fünf Minuten später fischt ihn ein Geheimagent unauffällig heraus. Übergabe erfolgt. Der Berliner Medienkünstler Aram Bartholl hat diese Idee jetzt aufgegriffen, dem Ganzen aber einen weniger geheimen, sondern bewusst öffentlichen Anstrich verpasst. Im Oktober 2010 hat er zum ersten Mal USB-Sticks so in New Yorker Mauerritzen einzementiert, dass nur noch die Metallkappen der Datenträger herausragten. An diese gilt es nun lediglich seinen tragbaren Computer anzustöpseln, die aufgespielten Dateien, die gefallen, herunterzuladen und selbst ein kleines digitales Dankeschön zu hinterlassen. Damit er möglichst viele Nachahmer findet, hat Bartholl auch gleich ein Video gedreht, das zeigt, wie der Einbau aussehen könnte. So funktioniert’s:

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Die Dead Drops-Weltkarte. Quelle: deaddrops.com

Die Dead Drops-Weltkarte. Quelle: deaddrops.com

Die einen sehen in der Dead-Drop Bewegung keinen tieferen Sinn, für sie ist das Ganze im besten Fall eine moderne Form von Street Art, im schlechtesten die weltumspannende Verbreitung potenzieller Gefahrenquellen (siehe unten). Die Community selbst will das anonyme File-Sharing auf offener Straße allerdings als Kritik an der umfassenden Kontrolle im Daten- und Informationsaustausch verstanden wissen. Ganz nach dem Motto: „Free your Data!“ – „Befreit eure Daten!“

Deutschland ist Dead-Drop-Hochburg

Egal, was man von der Errichtung dieser toten USB-Briefkästen halten mag: Bis heute existieren weltweit bereits 385 mit einem Gesamtvolumen von über 1100 GB  – die meisten davon, wer hätte das gedacht, in Deutschland. Auf der Internetseite http://deaddrops.com/ sind sie alle mit spezieller Bezeichnung, der Größe des Datenträgers, den genauen Koordinaten des Drops und einem kurzen Nutzungshinweis aufgelistet. So kann jeder einen toten Briefkasten in seiner Nähe suchen und ein bisschen James Bond spielen.

pflichtlektüre-Reporterin Elisabeth im Selbstversuch: Es kommt auf die Oberarmmuskulatur an.

pflichtlektüre-Reporterin Elisabeth im Selbstversuch: Es kommt auf die Oberarmmuskulatur an. Foto: Michael Prieler

Seit dem 13. April sind auf der Website auch zwei USB-Sticks an der Ruhr-Uni Bochum registriert. Die Koordinaten des Dead Drops mit dem Titel „Ruhr Universität Bochum“ führen zu einer Mauer direkt hinter der Mensa. Wer das digitale Überraschungsei finden will, muss allerdings schon ganz genau hin gucken: In fast zwei Metern Höhe ragt das 1 cm kleine Teil aus der Mauer – gerade so weit, dass man seinen Laptop direkt andocken kann. Den flüchtigen Hinweis auf der Dead-Drops-Seite: „A cable could be helpful“ sollten vor allem diejenigen beherzigen, die, je nach Ausprägung der Oberarmmuskulatur, länger als zwei Minuten angeschlossen bleiben wollen.

Eigenverantwortung gefragt

Hängt man aber erst einmal dran an der Mauer, ist alles ganz einfach. Die Dead-Drop-Regeln besagen, dass jeder alles runter und rauf kopieren darf, was er möchte, und das ganz anonym. Allerdings müssen alle Dropper selbst die Verantwortung dafür übernehmen, was sie ihren Nachzüglern hinterlassen. Standardmäßig befindet sich in jedem toten Briefkasten das „Dead-Drop-Manifest“, das Aram Bartholl zu Beginn der Bewegung verfasst hat. „Befreit eure Daten in Zement!“, schreibt er darin und fordert jeden dazu auf, seinen eigenen Dead Drop zu setzen.

Einmal Cyber-Pirat spielen: So sieht die read me-Datei auf dem Bochumer Dead Drops aus.

Einmal Cyber-Pirat spielen: So sieht die "read me"-Datei auf dem Bochumer Dead Drop aus. Screenshot: Michael Prieler

In Bochum sind diesem Aufruf  „pheanix & Sonderfarben“ gefolgt. Wer sich hinter diesem Pseudonym verbirgt, erfährt man nicht. Anonymität steht bei der hippen Hobby-Maurer-Gemeinde eben an erster Stelle. Aus dem digitalen Gästebuch, das sich auf jedem USB-Stick zu befinden hat, geht lediglich hervor, dass die Bochumer ihren Drop schon am 22. März gesetzt haben.

Inhalt streng geheim

Seitdem hatte sich noch keiner an das silber glänzende Überraschungspaket angedockt – bis die pflichtlektüre kam und im Gegenzug für die von „pheanix & Sonderfarben“ feil gebotenen Daten ein ganz besonderes Schmankerl hinterließ: eine Sneak-Preview des aktuellen Magazins. Was sich dagegen zum Download auf dem Bochumer USB-Stick befindet, kann natürlich nicht verraten werden. Um das herauszufinden, müsst ihr euch schon selbst auf die Suche nach der intelligenten Mauerritze machen.

Die Sportstudenten Thorsten (l.) und Sören sehen in Dead Drops eine Risikoquelle.

Die Sportstudenten Thorsten (l.) und Sören sehen in Dead Drops eine Risikoquelle. Foto: Michael Prieler

Grundsätzlich kann auf die Dead Drops alles aufgespielt werden: von Musik, Bildern und Videos bis hin zu ganzen Computerprogrammen. Man weiß nie, was einen erwartet, wenn man seinen Laptop anschließt. Das macht den Reiz des Ganzen aus – aber auch das Risiko. „Wer weiß, was da drauf ist. Hinterher fange ich mir einen Virus ein und alle meine Dateien sind weg“, sagt Thorsten (24), Sportstudent an der RUB. Er steht dem ganzen Projekt eher skeptisch gegenüber und würde sich selbst nicht an der Datenbefreiung beteiligen. Sein Kommilitone Sören schließt sich ihm prinzipiell an: „Das ist schon eine ganz witzige Idee, aber sicher nicht ganz ungefährlich“, sagt der 23-Jährige. „Ich weiß nicht, ob ich allein für den Überraschungsmoment ein solches Viren-Risiko eingehen würde.“

Missbrauch befürchtet

Mit ihren Befürchtungen stehen Thorsten und Sören nicht alleine da. In Online-Foren und Medienberichten zu den „toten Briefkästen“ finden sich viele Kritiker, die den Missbrauch der öffentlichen Speichergeräte heraufbeschwören. Der Technik-Redakteur des Magazins „NewScientist“, Michael Reilly, bezeichnete die Dead Drops sogar als „digitalen Hygiene-Alptraum“. Aussagen wie diese können Herzblut-Dropper wie Christian von Pentz nicht nachvollziehen. Die Sendung DASDING TV des Südwestdeutschen Rundfunks (SWR) hat ein Porträt über den Stuttgarter gezeigt. Hört euch die Argumente des Dead-Drop-Verfechters doch einfach einmal selbst an.

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Halten die Idee, sich zum Datenaustausch mit dem Laptop an eine Mauer anzukoppeln, für eher abgedreht: Die Bochum Studentinnen Franziska (l.) und Sabine. Fotos: Michael Prieler

Halten die Idee, sich zum Datenaustausch mit dem Laptop an eine Mauer anzukoppeln, für eher abgedreht: Die Bochum Studentinnen Franziska (l.) und Sabine. Foto: Michael Prieler

Wie das Ganze jetzt aber tatsächlich einzuschätzen ist, darüber lässt sich streiten. Daten-Revolution? Spinnerei? Oder Kunst? „Nein. Kunst ist das nicht“, sagt die Bochumer Management-Studentin Franziska (24) ganz klar. „Ich würde es eher als verrückt bezeichnen.“ Und ihre Freundin Sabine entdeckt noch eine ganz andere Seite an dem Projekt: die romantische. „Mich erinnert das an den Film ‚Briefe an Julia'“ sagt die 23-Jährige.

Der Liebesfilm von 2010 erzählt von Menschen, die anonyme Liebesbriefe an die Mauer des Hauses in der italienischen Stadt Verona heften, in dem angeblich die echte Julia aus Shakespeares „Romeo und Juliet“ lebte. Sabine selbst wäre von einer Dead-Drop-Liebeserklärung aber weniger begeistert: „Die möchte ich dann doch lieber persönlich bekommen.“

Ein Text von Elisabeth Brenker und Michael Prieler