Film mit Folgen: Rock’n’Roll für den Pott

Als am 30. Dezember 1956 der Projektor im Dortmunder Kino „Capitol“ ausgeht, ist das der Beginn von drei wilden Tagen. Nach Ende der Vorstellung versammeln sich 4000 junge Menschen vor dem Kino und liefern sich in den folgenden 72 Stunden Straßenschlachten mit der Polizei: Autos werden demoliert, Passanten belästigt. Immer wieder singen die Jugendlichen und tanzen wild zu Rock’n’Roll-Musik. Der Auslöser? „Rock Around The Clock“ oder zu deutsch „Außer Rand und Band“ – ein amerikanischer Musikfilm über eine Rock’n’Roll-Band auf der Reise zum Ruhm.

Für manche war es ein Kinobesuch mit Folgen in diesem Winter Mitte der 50er-Jahre. Den Titel des Films nahmen die „Halbstarken“, wie sie in den Zeitungen damals genannt wurden, anscheinend wörtlich und sorgten für Chaos auf den Dortmunder Straßen. Die drei Krawall-Tage wurden schließlich durch das harte Vorgehen der Dortmunder Polizei unterbunden. Mit Schlagstöcken und Wasserwerfern konnten sie dem aufrührerischen Treiben der Jugendlichen ein Ende setzen. Dem neuen Lebensgefühl der jungen Leute aber nicht. Der Film sorgte für eine Umwälzung, der Rock’n’Roll etablierte sich als eine Kultur des Aufbegehrens, brach mit Konventionen – und „Rock Around The Clock“ wurde als Kultfilm richtungsweisend für die neue Bewegung. Dieser Effekt ließ sich aber nicht nur in Dortmund beobachten. In den anderen Ruhrgebietsstädten kam es ebenfalls zu Ausschreitungen, aber auch in Metropolen wie Hamburg oder Bremen.

Rock Around The Clock - Die Handlung
Der Musikmanager Steve Hollis trennt sich nach einem Streit von seiner bisherigen Band. Zu wenige Zuschauer waren zu den Konzerten der Tanzkapelle gekommen, die ihren Manager dafür verantwortlich macht. Auf dem Weg nach New York wird Hollis von hupenden Jugendlichen überholt, die zu ihrem Tanzabend fahren. Neugierig besucht auch er das Konzert und sieht erstmals eine Rock’n’Roll-Band, die den Namen Bill Haley trägt. Fasziniert von der neuartigen Musik und den hemmungslosen Tänzen der Jugendlichen möchte er die Band unter Vertrag nehmen und verliebt sich obendrein in die Tänzerin Lisa. Diese verwaltet die Finanzen der Band. Gemeinsam führen sie die Band langsam zu großem Erfolg, da die neue Musik trotz aller Bedenken sehr populär wird.

Erst ein hartes Vorgehen der Dortmunder Polizei beendete die dreitägigen Proteste und Ausschreitungen. Foto: Hans Schreiber/Archiv für populäre Musik im Ruhrgebiet e.V.

Eine wichtige Rolle in dem Film nimmt die Band „Bill Haley & His Comets“ ein. Frontmann Bill Haley singt mit enthusiastischer Rotznäsigkeit die Zeilen des Klassikers „Rock Around The Clock“, der dem Film den Namen gab. Der Song ist auch heute noch einer der erfolgreichsten Songs der Nachkriegszeit und gilt als Auslöser für die aufkeimende Rock’n’Roll-Kultur im Ruhrgebiet. Das weiß auch der 68-jährige Hans Schreiber: „Der Film zu dem Musikstück ist nicht unbedingt rebellisch, dafür aber die Musik an sich.“ Schreiber ist Mitglied des „Archiv für populäre Musik im Ruhrgebiet e.V.“. Der Verein sammelt Erinnerungen an die Musikgeschichte im Pott und hat sich auch die Dortmunder Aufstände zum Thema gemacht. Zusammen mit dem WDR planen die Mitglieder eine Aufarbeitung – und wollen erklären, warum ein einziger Kinofilm so eine große Wirkung hatte.

Eskalation im Kinosaal

Diese Wirkung stand vor allem im Zusammenhang mit der Unzufriedenheit der Jugendlichen. Die lauten Gitarrenklänge der eingängigen Lieder in Kombination mit dem neuartigen Tanzstil waren für die Jugendlichen ein Ausbruch, sie waren das Synonym eines neuen Lebensstils, ohne die starren Zwänge der Elterngeneration. „In der damaligen Zeit musste man sich angepasst verhalten. Fiel man irgendwie aus dem Rahmen, galt man schnell als Aussätziger. Die Bewegung zu der Musik war da etwas ganz anderes. Es war ein neues Lebensgefühl und eben auch ein ganz neuer Tanzstil“, berichtet Schreiber. Schon während der Filmvorstellungen tanzen die Kinobesucher in Deutschland zu den Musikstücken mit. Die Folge waren schlimmstenfalls zerstörte Kinosäle und Polizeipräsenz bei den folgenden Vorstellungen des Films. „Der Film diente für die Jugendlichen als Ventil“, fasst Schreiber zusammen.

Doch schon vor der Veröffentlichung des Films hatten sich in Dortmund Clubs gegründet, in denen vor allem junge Männer sich in Kneipen trafen und für weniger heftige Randale sorgten. Die „Teddy-Boys“, der „James Dean Club“ und die „Stollenpark-Boys“ waren allerdings nicht nur auf ein etwas wilderes Feierabend-Bier aus. „Diese Leute waren wie die heutigen Rockerbanden und tatsächlich auch kriminell. Es gab mindestens zwanzig verschiedene Klubs, die untereinander verfeindet waren“, sagt Schreiber. Gewalt, frühe Rockmusik und das Rotlicht-Milieu habe zur Tagesordnung gehört. „Für die Banden war der Film ein willkommener Anlass, um sich auf der Straße präsentieren zu können. Die Prügeleien waren ein Kräftemessen und eine Art Männlichkeitsritual für die frustrierten jungen Männer.“

Tanzen gegen den Alltags-Frust

„Solche spontanen Versammlungen sind heute nicht mehr überall möglich. In alternativen Städten wie Berlin oder Freiburg kann ich es mir aber gut vorstellen.“ – Patrick Bozic (31). Foto: Thorben Lippert.

Und ihnen schlossen sich dann viele junge Leute an, die sich von der Musik des Films angesprochen fühlten. Dass gerade ein Kinofilm der Auslöser für die Krawallen wurde, ist für Schreiber kein Zufall. „Das Kino war die einzige Möglichkeit, um Musik mehr oder weniger live zu sehen. Sonst wurde Musik in der Form nur noch auf Kirmessen dargeboten. Und in ‚Rock Around The Clock‘ gab es gleich acht der neuartigen Rock’n’Roll-Songs zu sehen und zu hören.“

Dass nur wegen eines Kinofilms Ausschreitungen in mehreren deutschen Städten stattfinden, klingt heute verrückt. Schreiber hält solche Reaktionen aber auch nicht mehr für möglich: „Es gibt kaum noch solidarisierende Ereignisse, die so eine Wirkung auslösen könnten. Den heutigen Studierenden traue ich sowas deshalb nicht mehr zu. So eine spontane Demonstration aus dem Bauch heraus gibt es nicht mehr.“ Die letzten vergleichbaren Ereignisse und Entwicklungen habe es höchstens in der Punk-Musik gegeben – und da höchstens bei Konzerten. 

„In Deutschland ist das möglich. Die Deutschen gehen eigentlich gerne auf die Straße und zeigen sich.“ – Natalia Ogorelysheva (28). Foto: Thorben Lippert.

Auch einige Studierende auf dem Dortmunder Campus glauben nicht mehr an mitreißende Demonstrationen von Jugendlichen. Der 28-jährige Thomas Auer wünscht sich aber eigentlich, dass Studierende wieder mehr auf die Straße gehen – sei es im Kampf gegen Ungerechtigkeiten oder auch für prägende Änderungen in der Gesellschaft: „Unsere Gesellschaft ist zu übersättigt. Uns geht es zu gut. Wenn sich was zum Guten wendet, profitieren alle davon. Aber etwaige Konsequenzen möchte niemand tragen.“ Auch Patrick Bozic sieht das so. Nur in Städten wie Berlin oder Freiburg, in denen es eine breite alternative Studierendenszene gibt, sei eine Wiederholung eines vergleichbaren Ereignisses möglich: „Es muss nur eine Botschaft hinter dem stehen, was man bei Demonstrationen oder auf der Straße tut.“ Natalia Ogorelysheva dagegen glaubt, dass solche Jugendaufstände noch immer möglich sind: „Wenn es um Prinzipien und nicht um Belangloses geht, würden junge Leute auch noch auf die Straße gehen.“ 

Doch wegen eines Kinofilms derart zu eskalieren? Da ist auch Ogorelysheva kritisch. Eine solche Sprengkraft wie damals traut wohl kaum noch jemand einem Film zu. Die vielen entfesselten Jugendlichen, die den Film auf den Straßen feiern, wirken aus heutiger Sicht wie einer anderen Epoche entsprungen. Filmschocker sorgen heutzutage nicht etwa für ein neues Lebensgefühl oder den Ausbruch aus gesellschaftlichen Zwängen – sondern höchstens für eineinhalb Stunden Flucht aus dem Alltag.

Beitragsbild: Hans Schreiber/Archiv für populäre Musik im Ruhrgebiet e.V.

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