Mit dem Trauma auf die Bühne

Das Theaterprojekt „Say it loud“ des Dortmunder Kinder- und Jugendtheaters bringt die Geschichten von jugendlichen Flüchtlingen auf die Bühne. Das Ziel: die traumatischen Erlebnisse aufarbeiten. Aber geht das überhaupt? Psychologe Dr. Georg Pieper hat sich auf Traumabewältigung spezialisiert. Im Interview erklärt er, wie Theater bei der Aufarbeitung von Traumata helfen kann.

Können Flüchtlinge ihre Erlebnisse durch das Theaterspielen verarbeiten? 

Das ist nicht zu vergleichen mit regulärer Traumatherapie. Aber das Erlebte zum Thema machen, reden, Worte zu finden für das Grauen, das man erlebt hat, ist ein guter Schritt in Richtung Traumaverarbeitung. Bei manchen ist danach keine Therapie mehr nötig. Dann reicht es aus, damit sie es selbst weiter verarbeiten können. 

Also hängt es vom Einzelnen ab, wie wirksam diese Art der Traumaverarbeitung ist? 

Ja, das ist individuell. Das hat zu einem großen Teil etwas mit der Schwere der Traumata zu tun. 30 bis 60 Prozent der Flüchtlinge sind traumatisiert. Das bedeutet aber auch, dass bis zu 70 Prozent, also ein relativ großer Teil, nicht traumatisiert sind. Für die leichteren Fälle reicht zum Beispiel das Theater aus. Das hat etwas mit einer wichtigen Erkenntnis aus der Traumatherapie zu tun. Nicht darüber reden können stellt einen Risikofaktor dar. Dadurch können posttraumatische Störungen schwerwiegender sein. Das Theater ist an dieser Stelle eine gute Möglichkeit. 

Für Flüchtlinge mit einer schweren Belastungsstörung ist das nicht so einfach. Es kann ein erster Schritt in die richtige Richtung sein, den ich sehr begrüße. Bei der aktuellen Situation haben wir fehlende Kapazitäten, zu wenige Therapeuten und monatelange Wartezeiten. Vor kurzem hat eine syrische Familie bei mir angefragt. Der musste ich leider sagen, dass sie sieben oder acht Monate warten müssen. 

Dr. Georg Pieper beschäftigt sich als Psychologe auch mit den traumatischen Erfahrungen von Flüchtlingen.           Foto: Philip Treutel

Müssen Regisseure auf bestimmte Dinge achten, wenn Flüchtlinge auf diese Art ihr Trauma aufarbeiten?

Es gibt tausend Dinge, bei denen man leicht in Fallen tappen kann. Trigger-Reize zum Beispiel. Das sind Reize von außen, die an schlimme Erfahrungen erinnern. Ein Beispiel ist ein Kind, das sich plötzlich in der Schule völlig ängstlich unter dem Tisch verkriecht. Der Auslöser war ein Hubschrauber, der draußen vorbei geflogen ist. Das hat das Kind daran erinnert, dass die ganze Stadt zerbombt wurde. Es war gestresst, weil in dem Moment alle schlimmen Erfahrungen wieder hochkommen. Diese Trigger-Reize können in unendlich vielen Kleinigkeiten stecken: Wasser, Farbe, Geruch oder bestimmte Betonungen beim Sprechen. Wichtig ist es beim Theater, dass die Flüchtlinge nicht einfach nur loslegen, sondern kognitiv darauf vorbereitet werden. Sie müssen ihre Erlebnisse erst in einem behüteten Kreis erzählen können. 

Bei diesem Theaterprojekt hat der Regisseur vorher mit den Flüchtlingen über ihre Erlebnisse gesprochen. Sie konnten ihm das erzählen, was sie erzählen wollten. Danach hat der Regisseur sie gefragt, was sie davon auf der Bühne zeigen möchten und was nicht. Kann so etwas eine Möglichkeit sein?

Ja, das kann man auf jeden Fall machen. Aber nicht alle Flüchtlinge haben die Fähigkeit, zu beurteilen, was wirklich dargestellt werden kann und was nicht. Beim Theaterspielen kann das für sie schon wieder ganz anders sein als in persönlichen Gesprächen. 

Die Aufarbeitung durch Theater ist ja keine psychologische oder therapeutische Herangehensweise. Kann das problematisch sein? 

Das kann sein, wenn die Vorbereitung, von der ich gerade gesprochen habe, nicht stattgefunden hat. Dann stolpern die jugendlichen Flüchtlinge unvorbereitet in Situationen rein, mit denen sie nicht gut umgehen können. Sie kommen dann sehr stark in diese Gefühle rein. Bei solchen Traumata ist es wichtig, auch nachher darüber zu reden. Also nicht nur Theaterspielen, aufführen und dann war es das. Wenn wie bei dem Theater sehr viel aufgewühlt wurde, ist es wichtig, das weiter zu besprechen. Das muss auch gar nicht unbedingt eine Therapie sein. Diejenigen sollten aber eine gewisse Sicherheit haben und sich fortgebildet haben. Dazu gehört ein bisschen mehr Grundwissen über Traumata als nur einen Artikel dazu gelesen zu haben. 

Sie haben schon gesagt, dass sie auch Flüchtlinge betreuen. Wie arbeiten Sie mit denen, wenn sie kriegstraumatisiert sind? 

Das sind exklusive Einzelfälle, in denen man sich das leisten kann. Aber nicht in dem Sinne, dass die mich dafür bezahlen, sondern, dass die wirklich einen Therapieplatz bekommen. Ich bilde auch Lehrer und Erzieher darin aus, die Flüchtlinge zu betreuen. Ich setze sehr auf das Malen. Die Flüchtlinge malen Bilder von ihren traumatischen Erlebnissen. Gleichzeitig sollen sie sich selbst tappen [dabei klopft oder tippt man wechselseitig auf beide Körperseiten, zum Beispiel an den Händen, den Schultern oder den Knien]. Das ist eine aus der Traumatherapie abgeleitete Methode. Das sind auch keine fachtherapeutischen Methoden, aber das kann man gut an Lehrer oder Erzieher weitergeben. 

Aber wenn bei Ihnen jetzt ein traumatisierter Flüchtling in der Sprechstunde sitzt, welche Methoden wenden Sie dann an, die ein Lehrer oder Erzieher vielleicht nicht leisten kann? 

Es gibt ein siebenstufiges Behandlungskonzept für Traumatisierte. Das Wichtigste ist, dass man sehr ausführlich mit den Menschen darüber redet, was ihnen passiert ist. Das muss wirklich ganz detailliert passieren. Sie sollen mir nicht nur sagen, dass sie ihre tote Mutter daliegen gesehen haben, sondern auch, wo sie lag, wie sie da lag und wie sie aussah. Das Ganze läuft unter einer bestimmten Technik ab, sodass sie dabei emotional nicht überflutet werden. 

Der zweite wichtige Punkt ist die Konfrontation mit einem Traumadrehbuch. Darin sollen die Flüchtlinge aufschreiben, was ihnen passiert ist und es mir dann vorlesen. Danach lese ich es ihnen vor. Das geht dann im Wechsel, 20 bis 25 Mal. Dann tritt etwas ein, was Habituation heißt. Das bedeutet, dass die schmerzhaften Gefühle nachlassen. 

Der dritte wichtige Aspekt ist die EMDR-Technik. Das ist eine traumaspezifische Methode, eigentlich die traumatherapeutische Methode schlechthin, die auch nur Spezialisten können. Dabei sollen sich die Flüchtlinge intensiv vorstellen, was passiert ist und sich ein Bild davon machen. Der Traumaexperte macht dann Handbewegungen vor den Augen des Traumatisierten, der ihnen mit seinen Augen folgt. Das bewirkt eine bilaterale Stimulation im Gehirn. Die traumatischen Erlebnisse sind gespeichert, aber isoliert gespeichert im emotionalen Zentrum des Gehirns. Alle anderen Bereiche sind bei Traumatisierten lahm gelegt. Bei Trigger-Reizen feuert die Amygdala, sodass die Traumatisierten erstarren. Durch die Handbewegungen stimulieren wir sie und die anderen Bereiche werden auch aktiv. Dann sind die traumatischen Erlebnisse nicht mehr isoliert, sondern das ganze Gehirn ist aktiviert.

Dazu gehört zum Beispiel der Bereich für logisches Denken, der reguliert und hemmend auf die starke emotionale Reaktion einwirkt. Dadurch haben sich die Traumatisierten viel mehr im Griff. Eine gelungene Traumaverarbeitung ist es dann, wenn man über das Erlebte reden kann, nichts vermeiden muss und es sich ansehen kann. Das passiert auch beim Theater: Die Flüchtlinge fassen es in Worte und reden darüber. Gleichzeitig ist das logische Denken aktiv. Es gibt ein Zitat von Sokrates, das heißt: Alles, was wir in Worte fassen, das können wir hinter uns lassen. Und das ist das Wichtige. Nicht über die traumatischen Erlebnisse reden ist problematisch, es in Worte fassen ist gut. Das ist zwar nicht ganz das oder bei Weitem nicht das, was eine Traumatherapie kann, aber es sind einer, zwei, drei oder sogar vier Schritte in die richtige Richtung. 

 

Beitragsbild: Birgit Hupfeld

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