Proteste in Brasilien: Der Weg ist noch weit

Während die Welt auf Ägypten schaut, kommt ein anderes Land auf einem anderen Kontinent nicht zur Ruhe: Brasilien. Vor wenigen Tagen noch richteten sich alle Blicke auf das fußballverrückte Land auf dem amerikanischen Kontinent – und dieses Mal ausnahmsweise auch aus politischer Sicht, dem Fußball-Confederations-Cup sei Dank.

„Endlich“, meint Arthur Cagliari. „Es ist wichtig und gut, dass die Leute auf die Straße gehen – für die Mentalität, für das Land. Jetzt wehren sich die Leute und hinterfragen die Politik. Sie wissen, dass es so nicht weitergehen kann“.

Arthur Cagliari.

Arthur Cagliari unterstützt die Proteste in seinem Heimatland von Dortmund aus. Teaserbild: Arthur Cagliari / Fotos: Eros Junior.

Arthur ist 23 Jahre alt, kommt aus der brasilianischen Großstadt Sorocaba und studiert in Campinas – in der Nähe von Sao Paulo. Er studiert dort Journalistik und obwohl er seit zehn Monaten an der TU Dortmund Auslandssemester einschiebt, ist er ganz nah dran an seiner Heimat – das World Wide Web macht’s möglich. „Ich gucke jeden Tag ins Internet. Um 14 oder 15 Uhr schaue ich rein, weil dann die wichtigen Neuigkeiten kommen – wegen der Zeitverschiebung. Sobald was passiert, weiß ich Bescheid. Vor allem Facebook ist einer der wichtigsten Kanäle, über die die Proteste in die Welt getragen werden“.

Manche Leute wissen gar nicht, für was sie eigentlich auf die Straße gehen“

Brasilien ist mit 192 Millionen Einwohnern und mit einer Fläche von rund 8,5 Millionen Quadratkilometern eines der bevölkerungsreichsten und größten Länder der Welt und ist Träger des Wahlspruchs Ordem e Progresso – Ordnung und Fortschritt. Klingt nach einem sinnvollen Motto für so viele Menschen und so viel Land. Nur sind die Vorstellungen über das, was Ordnung und Fortschritt bedeutet, sehr verschieden. Während Präsidentin Dilma Rousseff beispielweise die Ticketpreise für öffentliche Verkehrsmittel als angemessen erachtet, ätzt das Volk auf der Straße dagegen.

Mit Recht? „Ich denke, dass es richtig ist, was die Fahrpreise betrifft. Aber das Problem ist, dass manche Leute generell gar nicht wissen, für was sie da eigentlich protestieren. Manche gehen auf die Straße wegen dem schlechten Bildungssystem, manche protestieren gegen das Gesundheitssystem – das ist die Idee. Aber ich denke ein klares Ziel haben die meisten nicht“, sagt Arthur.

Der Arabische Frühling als Vorbild: Facebook mobilisiert das Volk

Dass die Leute in Brasilien aber überhaupt auf die Straße gehen und „ihre Stimme“ entdeckt haben, verdanken sie der „Social-Media-Revolution“ der vergangenen Jahre im arabischen Raum. Nach dem Sturz von Präsident Mursi leben die Proteste in Ägypten aktuell wieder auf – und werden dabei über soziale Netzwerke in der Welt verkündet. Genauso funktioniert das auch in Brasilien. Die Geschichte der Proteste ging von der Facebook-Seite Movimento do Passe Livre (MPL) aus, was soviel bedeutet wie „Bewegung für den Freiverkehr“. „Es ging dabei am Anfang zunächst nur um zu hohe Ticketpreise für öffentliche Verkehrsmittel“, erklärt Arthur. „Es waren erst nur ein paar Leute auf der Straße und haben dort schon eher brutal protestiert. Aber die Polizei war genauso brutal, nicht nur gegen die Menschen auf der Straße, sondern auch gegen die Journalisten, die vor Ort waren – und das hat die Leute aufgeregt und sie haben für sich entdeckt: Wir haben das Recht zu demonstrieren, wir haben das Recht uns zu wehren.“ Facebook ist für die Brasilianer zur Anlaufstelle Nummer eins aufgestiegen, wenn es darum geht, Meinungen auszutauschen, sich zu organisieren, Demonstrationen auf die Beine zu stellen. „Wir gehen Montag auf die Straße, kommt mit“ – diese einfache Aufforderung hat über Facebook so viele Menschen erreicht, dass die Zahl der Demonstranten von Tag zu Tag ansteigt. „Und das tut sie immer noch“, sagt Arthur. Am Anfang ging es eigentlich „nur“ um die Fahrpreise. „Jetzt geht es um viel mehr: vor allem um die Infrastruktur und die Korruption.“

Facebook ist gut, aber nicht immer die Wahrheit“

Arthur findet diese Entwicklung in Brasilien zwar gut: Immer mehr Menschen mit immer mehr Themen und vor allem mit echtem Interesse für das Land und für die Politik. „Aber man muss aufpassen“, sagt er. „Manche Leute kümmern sich nur um das, was da auf Facebook passiert. Sie denken alles, was da steht, ist wahr. Aber es ist wichtig, dass man seine Informationen von überall her bezieht, dass man ein bisschen journalistisch aktiv wird und recherchiert.“

In der Universitätsstadt Campinas demonstrieren Studenten den ganzen Tag.

In der Universitätsstadt Campinas demonstrieren Studenten den ganzen Tag.

Arthur wünscht sich, dass die Menschen in Brasilien noch politischer werden und ihre Situation noch mehr hinterfragen, als sie es jetzt tun. „Die Leute müssen kritischer sein, mehr lesen und sich mehr informieren. Sie sagen sie demonstrieren doch durch Facebook, aber das reicht nicht.“

Demonstrationen politisch einseitig

Die Brasilianische Regierung reagiert deshalb auch (noch) relativ gelassen auf die Menschenmassen in Brasiliens Großstädten. Sie erklärt die Proteste für eine „Populärströmung“ aus der Bevölkerung ohne eine politische Richtung oder eine politische Färbung. „Die Leute auf der Straße wollen als erstes soziale Probleme lösen. Für mich ist das ganz klar erkennbar links. Die Presse versucht den ganzen Tag zu zeigen, dass es dabei nicht um eine politische Richtung geht. Aber das stimmt einfach nicht, viele linke Politiker demonstrieren mit“, sagt Arthur.

Er findet die Entwicklung teilweise bedrohlich, da sie vermehrt aus einer politischen Richtung stammt und dann vielleicht zu einseitig werden könnte. „Viele protestieren einfach allgemein gegen die Regierung, gegen die Präsidentin, aber nur schlechte Entscheidungen hat sie ja auch nicht gemacht.“ Arthur wünscht sich ein stabileres politisches System für Brasilien, weiß aber auch, dass das Land mit einer Frau an der Spitze nicht völlig auf dem falschen Weg sein kann. „Rousseff hat ja schon viele Reformen gebracht. Es ist schon einiges besser geworden und sie hat sogar auf die Proteste gegen die Ticketpreise reagiert und die Erhöhungen zurückgenommen.“ Trotzdem gehen die Menschen auf die Straße, trotzdem herrscht kollektive Unzufriedenheit. „Natürlich hat dieses politische System Probleme, die man lösen muss. Aber die Menschen wollen am liebsten alles auf einmal ändern – auf der Stelle. Wir haben Feuer, aber kein Konzept“, meint Arthur.

Beim Bildungssystem anfangen“

Sein Journalistik-Studium macht Arthur in Brasilien an einer Privatschule. „Das öffentliche Bildungssystem ist ganz schlecht, das reicht nicht aus. Aber selbst in der privaten Bildung gibt es große Probleme. Wenn Dozenten und Lehrer wenig verdienen, dann demotiviert sie das und sie übertragen diese Einstellung auf ihre Schüler – so kann das nicht funktionieren“, erklärt er. „Manche Journalisten-Schüler können teilweise nicht fehlerfrei in der Landessprache Portugiesisch schreiben. Solange es so etwas gibt, brauchen wir Reformen und Investitionen in Bildung.“ Ein kleiner Schritt ist schon getan – für Arthur persönlich sogar ein großer. Dank des Programmes Wissenschaft ohne Grenzen ist es für ihn erst möglich geworden nach Deutschland zu kommen und am Institut für Journalistik der TU Dortmund den deutschen Journalismus kennenzulernen. Dieses Programm ist eine der ersten kleinen Investionen in die Bildung, Arthur gehört zu den ersten brasilianischen Studenten, die so die Möglichkeit bekommen ins Ausland zu gehen.

Die Proteste thematisieren vor allem soziale Probleme im Land. Foto: Wer?

Die Proteste gelten vor allem dem schlechten Bildungssystem in Brasilien.

Richtig nachvollziehen, warum sich in Brasilien erst jetzt, so spät, etwas bewegt, kann Arthur nicht. „Wir waren zu viel zuhause in den vergangenen Jahren“, sagt er. „Es ist gut, dass wir jetzt reagieren, aber es ist wie es ist: Wir können nicht alles auf einmal erreichen. Wir brauchen Ziele und da müssen wir beim Bildungssystem anfangen, nur dann geht es weiter.“ Ordem e Progresso? Auch wenn Brasilien bereits eine Frau als Präsidentin und Reformen durchgesetzt hat, befindet sich das Land in „einem schlechten Zustand“ (Arthur). Um Recht und Ordnung in europäischem Sinn zu erreichen, braucht Brasilien langfristige Veränderungen. „Obwohl die Präsidentin jetzt Reformen durchgesetzt hat, kann das einfach zur Beruhigung der Lage sein, um die WM 2014 nicht zu gefährden. Es kann sein, dass die Regierung nach der Weltmeisterschaft einfach zur Tagesordnung übergeht.“

Ordem e Progresso? Bis dahin ist es noch ein sehr weiter Weg. Arthur will diesen Weg aber weiter mitgehen, Schritt für Schritt – selbst wenn ihn tausende Kilometer von seiner Heimat trennen.

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