„Die Proteste werden anhalten, aber zurückgehen“

In Brasilien hält der Widerstand gegen die Fußball-WM an. Tausende Menschen protestieren vor allem gegen die explodierenden Kosten und sozialen Missstände. Das Verhältnis zwischen Sport und Politik ist seit jeher ein schwieriges, weiß Jürgen Mittag. Im Interview mit pflichtlektüre-Autor Victor Fritzen erklärt der Professor für Sportpolitik an der Deutschen Sporthochschule Köln, wer in Brasilien auf die Straße geht, welche Rolle die Fifa spielt und wie die Sportler reagieren sollten.

Die mediale Wahrnehmung lässt vermuten: Die Brasilianer wollen die WM gar nicht – zumindest nicht um jeden Preis. Deckt sich das mit Ihren Kenntnissen?

Ja und Nein. Sportpolitischer Protest ist immer nur im Vorfeld eines Großereignisses, vielleicht noch währenddessen, erfolgreich. Das haben wir beispielsweise bei der Fußball-EM 2012 in der Ukraine gesehen, wo im Vorfeld wochenlange Debatten um die inhaftierte Julia Timoschenko geführt wurden. Während der Spiele hat es kaum noch jemanden interessiert, danach niemanden mehr. Die Proteste werden partiell anhalten, aber zurückgehen. Wenn die Fußball-Spiele laufen, rücken sie auch in Brasilien in den Vordergrund  – gerade in diesem fußballverrückten Land. Anders übrigens als beim Confed-Cup, der sportlich eine eher nachrangige Rolle hatte und der Protest-Moment eine deutlich stärkere Aufmerksamkeit erfahren hat.

Jürgen Mittag ist Professor für Sportpolitik an der Deutschen Sporthochschule (DSHS) Köln. Foto: DSHS

Jürgen Mittag ist Professor für Sportpolitik an der Deutschen Sporthochschule (DSHS) Köln. Foto: DSHS

Welche Ziele verfolgen die Demonstranten?

Den Protestlern geht es zum einen um Aufmerksamkeit, zum anderen um ihre sozialen Anliegen. Sie richten sich gegen die Milliarden-Ausgaben für die WM und fordern, stattdessen mehr Geld in Bildung und Gesundheit zu investieren. Es sind nicht nur die typischen Arbeiter, die auf die Straße gehen. Es ist eher eine bürgerliche Mittelschicht, die mit sozialen Verlustängsten konfrontiert ist. 

Wie erfolgsversprechend sind diese Proteste?

Nicht unerheblich. Die brasilianische Regierung hat ja bereits reagiert und beispielsweise die Fahrpreiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr zurückgenommen. Die Demonstranten leiten so nicht nur den Dialog mit der Politik in die Wege. Bestenfalls werden einige Forderungen durch- und umgesetzt.

Hat Präsidentin Dilma Rousseff ihre Landsleute also bereits überzeugen können?

Präsidentin Rousseff versucht, das Positive der WM für persönliche Zustimmung zu nutzen, um ihre Akzeptanz zu erhöhen und eine Positivspirale in Gang zu setzen. Proteste, gerade bewaffnete Auseinandersetzungen, sind da eher kontraproduktiv. Mit sozialpolitischen Zugeständnissen kann sie aber versuchen für eine bessere Stimmung zu sorgen. Schließlich will sie im Oktober wiedergewählt werden.

Wie sollten sich die Sportler verhalten? 

Für die Athleten sind derartige Proteste stärker ins Blickfeld gerückt, weil sie aufgrund veränderter Kommunikationsformen mitunter gezwungen werden, Stellung zu nehmen. Dadurch stecken sie in einer Zwickmühle: Sie können sich nicht enthalten, werden auf der anderen Seite von den Sportorganisationen aber zu politischer Neutralität gedrängt. Deswegen kommt es immer wieder zu Konstellationen, in denen einzelne Sportler eine gewisse gesellschaftspolitische Verantwortung zeigen wollen – in dem sie Protest ausüben, allerdings nicht demonstrierend, sondern auf subtile Art und Weise wie mit kleinen Gesten.

Können denn Sport und Politik überhaupt noch voneinander getrennt werden?

Nein. Natürlich heißt es immer, dass die Politik aus dem Sport herausgehalten werden soll. Der Sport bietet aber eine derart große Projektionsfläche und hohen Resonanzboden, dass er nicht von der Politik getrennt werden kann. Je größer das Ereignis, desto höher ist das Verflechtung- und Instrumentalisierungspotenzial.

Ist für die Demonstranten schon etwas damit erreicht, wenn über die Proteste berichtet wird?

Sportgroßereignisse wie Olympische Spiele oder die Fußball-WM schaffen und bieten eine globale Bühne, auf der die unterschiedlichsten Interessen vermittelt werden können. Allein dadurch, dass diese Proteste eine weltweite mediale Plattform erfahren, ist für die, die auf die Straße gehen, etwas erreicht. Erst recht natürlich, wenn so wie in Brasilien konkrete Maßnahmen umgesetzt werden.

Tut die Fifa gut daran, sich aus den innenpolitischen Diskussionen weitestgehend rauszuhalten oder hätte sie nicht vielmehr die sozial-politische Verpflichtung, sich einzumischen?

In der Vergangenheit hat sie sich weitestgehend rausgehalten – und ist damit auch gut gefahren. Mittlerweile bildet sich ein vorsichtiges, langsames, zart sprießendes Bewusstsein heraus, dass es eben nicht nur um die Ökonomie und die Gewinne gehen kann, sondern dass auch soziale, menschliche und ökologische Faktoren im Zusammenhang mit dem Ereignis bedeutsam sind. Die Fifa weiß, dass sie Gefahr läuft, die Glaubwürdigkeit zu verlieren, wenn sie diese Komponenten nicht beachtet.

Die Fifa erwartet einen Umsatz von mehreren Milliarden US-Dollar. Das Gastgeberland muss dagegen die gesamten Ausgaben für den Stadienbau und die Infrastruktur tragen. Warum lassen sich Regierungen bei der Vergabe von Fußball-Weltmeisterschaften auf solche Deals ein?

Derartige Sportereignisse bescheren dem jeweiligen Gastgeberland eine herausragende Öffentlichkeit, vor allem die Fußball-WM. Wenn man sich nur die Einschaltquoten im weltweiten Vergleich anschaut, waren beispielsweise 2010 in Deutschland neun der zehn meist eingeschalteten Fernsehübertragungen Spiele der WM in Südafrika. Jeder Staats- und Regierungschef, aber auch jeder Sportverband weiß, dass diese herausragende Aufmerksamkeit einzig über dieses Ereignis herzustellen ist. Deswegen ist die Bereitschaft so hoch, sich allen Regularien und Restriktionen der Fifa zu unterwerfen. 

Den Fußballweltverband dürfte das freuen – vor allem finanziell…

Die Fifa könnte locker ein oder zwei Jahre auf Einnahmen verzichten, weil sie eine sehr gut gefüllte Schatulle hat und in der Lage ist, Misserfolge auszuhalten. Daran sieht man, welch’ großes Potenzial die WM hat und warum sich internationale Organisationen wie die Fifa einiges herausnehmen können. Ein Beispiel dazu: Auch England hat sich um die WM 2018 beworben und hätte dafür einer Ausnahme beim Geldwäschegesetz zugestimmt. Eine eklatante Fragestellung rechtsstaatlicher Grundlagen wurde in Kauf genommen, um dieses Sport-Großereignis an Land zu ziehen.

Welche Rolle spielen Kriterien wie Menschenrechte bei der Vergabe von Großereignissen noch?

Sie haben bisher wenig bis gar keine Rolle gespielt, treten aber nach und nach stärker auf den Plan. Bis zum Jahr 1998 wurden Sport-Großereignisse im Wesentlichen an westliche Demokratien vergeben. Seitdem kommen neue Länder hinzu. Die etablierten Nationen haben ihre ökonomischen Potenziale erst einmal ausgeschöpft beziehungsweise die Wachstumsprognosen sind nicht mehr so kräftig. Deswegen schaut man seitens des organisierten Fußballs, aber auch anderen Sportverbänden, wo Wachstumsgewinne vorhanden sein könnten. Deswegen ist es kein Zufall, dass sportliche Großereignisse in Länder wie Japan, Südkorea, Russland oder Brasilien vergeben werden. Kriterien wie die politische Stabilität und die Rechtsstaatlichkeit sind eher nachgelagert und werden erst an zweiter oder dritter Stelle berücksichtigt.

 

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