Gehörlos an der Uni: Mit den Dolmetschern ins Seminar

Konzentriert sich auf ihre Dolmetscher: die gehörlose Studentin Christine. Foto: Daniela Arndt

Konzentriert sich auf ihre zwei Dolmetscher: die gehörlose Studentin Christine, während eines Uni-Seminars. Fotos: Daniela Arndt

Wenn Christine an der Uni ist, kommt sie immer zu dritt. Die 26-jährige Studentin ist gehörlos – zwei Gebärdensprachdolmetschern begleiten sie stets in ihre Kurse. Am Anfang war es für Christine nicht leicht, sich an der Uni unter hörenden Studenten zurechtzufinden – mittlerweile hat sie sich daran gewöhnt.

Wie immer sitzt Christine in der ersten Reihe des Seminarraums. Und wie immer schaut sie nicht ihren Dozenten an, sondern Nora und Vincent, die ihr gegenüber sitzen. In rasender Geschwindigkeit malen die beiden mit ihren Händen Zeichen in die Luft, damit die 26-Jährige verstehen kann, dass es in dieser Stunde um die Haftung des Aufsichtspflichtigen geht. Seit ihrer Geburt ist Christine gehörlos und könnte dem Seminar ohne die Hilfe ihrer Gebärdensprachdolmetscher nicht folgen.

An der Tafel erklärt der Dozent gerade, was es mit dem Ausdruck „Conditio sine qua non“ auf sich hat. An Nora gewandt sagt er: „Das sind jetzt echt fiese Fremdwörter, ich entschuldige mich.“ – „Ich schaff‘ das schon“, antwortet sie grinsend und buchstabiert die Wörter für Christine, die im ersten Semester Rehabilitationspädagogik studiert. Nora und Vincent übersetzen abwechselnd, denn alleine würde ein Dolmetscher die 90 Minuten nicht schaffen – das ist zu anstrengend. Hat Christine eine Frage, gebärdet sie diese und ihre Dolmetscher stellen sie laut. Nur wenn der Dozent antwortet, weiß die Studentin nicht recht, wo sie hinschauen soll. Eigentlich möchte sie ihn gerne ansehen, dann würde sie die übersetzte Antwort aber nicht mitbekommen. „Das gleiche Problem habe ich auch, wenn ich etwas abschreiben muss. Ich kann nicht gleichzeitig schreiben und meinen Dolmetschern folgen“, erklärt sie mir mit ihren Händen. Nora übersetzt für mich.

Gleichzeitig abschreiben und ihren Dolmetschern folgen, kann Christine nicht.

Gleichzeitig abschreiben und ihren Dolmetschern folgen, kann Christine nicht.

Zurechtkommen in der „hörenden Welt“

Die Dolmetscher begleiten Christine seit dem zweiten Semester in ihre Kurse. Damals hat sie noch Sonderpädagogik auf Lehramt an der TU studiert. „Es lief auch ganz gut“, sagt sie. „Aber irgendwann bin ich mehr und mehr in die Gehörlosen-Welt eingedrungen und habe mich in meiner Freizeit ehrenamtlich engagiert. Zeitlich hat das mit dem Studium dann nicht mehr gepasst.“ Deshalb hat sie nach dem fünften Semester eine zweijährige Pause eingelegt. In dieser Zeit hat sie unter anderem in einem Treff für hörbehinderte Jugendliche in Düsseldorf mitgeholfen, Vereinsarbeit beim Gehörlosenverband Bergisch Land (GBL) geleistet, einem hörbehinderten Jungen drei Mal in der Woche Nachhilfe gegeben und Texte für hearZONE, eine Zeitschrift für Menschen mit Hörbehinderung, geschrieben. Durch ihre Ehrenämter ist sie auf die Rehabilitationswissenschaft aufmerksam geworden und hat sich entschieden, mit dem Studium der Rehabilitationspädagogik zu beginnen. Sofern es zeitlich passt, hilft Christine auch jetzt noch im Jugendtreff mit, arbeitet für den GBL und schreibt für hearZONE. Darüber hinaus engagiert sie sich für gehörlose Flüchtlinge.

Durch ihr vorheriges Sonderpädagogik-Studium weiß die 26-Jährige, wie das Leben an der Uni läuft. Als ich sie frage, ob der Wechsel zur TU Dortmund am Anfang nicht eine große Umstellung für sie war, schlägt sie die Hände über dem Kopf zusammen. „Ich war es immer gewohnt, einen großen Freundeskreis zu haben. Mit allen meinen Freunden konnte ich gebärden.“ Schließlich ist sie in einen inklusiven Kindergarten gegangen und hat im Anschluss eine Grund-, Haupt- und Realschule für Gehörlose in Friedberg bei Frankfurt besucht. Ihr Abitur hat Christine am Rheinisch-Westfälischen Berufskolleg in Essen gemacht, das auf Gehörlose ausgerichtet ist. „An der TU war ich in der hörenden Welt plötzlich auf mich allein gestellt und musste alles selbst organisieren“, erinnert sie sich. Mit der Zeit hat sie ihre Kommilitonen zwar besser kennengelernt, „einen richtigen Freundeskreis wie früher habe ich hier aber nicht aufgebaut. Ich habe nur eine gute hörende Freundin“, sagt sie.

Dolmetscher als moralische Stütze

Gerade zu Beginn des Studiums mussten die Dolmetscher Christine erklären, was es mit der Gestik und Mimik ihrer Kommilitonen auf sich hat.

Zu Beginn des Studiums mussten die Dolmetscher Christine erklären, was es mit der Gestik und Mimik ihrer Kommilitonen auf sich hat.

Zusätzlich war das Lernen im ersten Semester auch nur sehr oberflächlich. „Ich hatte keine Dolmetscher, habe versucht, alles mitzukriegen, aber nach einer halben Stunde war ich einfach kaputt. Die Klausuren habe ich gar nicht erst mitgeschrieben.“ Zu Beginn des zweiten Semesters hat sie dann eine Firma in Essen beauftragt, sie bei der Organisation von Dolmetschern zu unterstützen. „Zu einigen habe ich ein persönliches Verhältnis aufgebaut und buche sie jetzt eigenständig.“ Das muss mindestens zwei bis drei Monate im Voraus geschehen – Christine hat deshalb schon einen Plan für das ganze Semester. Aktuell arbeitet sie mit zwölf Gebärdensprachdolmetschern zusammen. Die Kosten übernimmt der Landschaftsverband Rheinland (LVR), ein Leistungsträger für Menschen mit Behinderung in Deutschland. „Am Anfang waren die Dolmetscher für mich vor allem auch eine moralische Stütze. Oft bin ich aus der Mimik mancher Leute einfach nicht schlau geworden. Da war es gut, wenn mir jemand erklären konnte, was die Person mir sagen möchte“, erzählt Christine.

Auf ein Studium zu verzichten, kam für die 26-Jährige dennoch nicht in Frage. „Ich wusste, dass es schwierig wird“, sagt sie. „Ich habe mit einem Mädchen aus meiner Klasse angefangen zu studieren. Für sie war es zu anstrengend, sodass sie das Studium abgebrochen hat. Ich wollte aber schon als Kind studieren, deshalb habe ich weitergemacht.“ Nach dem Abi hat Christine sich an verschiedenen Unis beworben. Die TU Dortmund gefiel ihr am besten, da sie im Vergleich zu anderen Universitäten recht klein und überschaubar sei. Außerdem leiste das DoBus, das sich an der TU um Studenten mit Behinderung kümmert, in ihren Augen gute Arbeit. „Die Mitarbeiter fragen mich regelmäßig, ob alles in Ordnung ist. Wenn ich Hilfe brauche, weiß ich, dass ich mich an sie wenden kann“, sagt sie. „Sie haben mir auch geholfen, den Nachteilsausgleich zu organisieren. Jetzt bekomme ich in Klausuren 25 Prozent mehr Zeit und meine Dolmetscher dürfen mit in die Prüfungen kommen. Falls ich noch Fragen an den Dozenten habe, können sie übersetzen.“

Wenig gehörlose Studenten an Universitäten

Die Dolmetscher dürfen auch mit in Christines Prüfungen kommen, um

Die Dolmetscher dürfen mit in Christines Prüfungen kommen. Falls die Studentin noch eine Frage hat, können sie übersetzen.

Die zusätzliche Zeit bekommt Christine, da die Gebärdensprache eine andere Grammatik hat als die deutsche Laut- und Schriftsprache. „Da ich nicht nur mit der Gebärden-, sondern auch mit der Lautsprache großgeworden bin, verstehe ich beides ganz gut. Keiner unserer Lehrer in der Realschule konnte Gebärdensprache, sie haben in Lautsprache mit uns gesprochen. Nur mit Mitschülern habe ich gebärdet“, erzählt sie.

Insgesamt ist Christine mit ihrem Studium sehr zufrieden. Für die Zukunft wünscht sie sich allerdings noch mehr gehörlose Studenten an der Uni. Denn aktuell liegt der Anteil von Studenten mit Hörbehinderung in Deutschland weit unter einem Prozent. „Wenn man die Anfangsschwierigkeiten überwunden hat, ist das Studium auf jeden Fall machbar“, sagt sie. „Und noch mehr gehörlose Studenten, die nicht wie an einer Förderschule getrennt, sondern mit den anderen zusammen studieren, würden die Uni auf jeden Fall bereichern.“

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In der Dezember-Ausgabe der Pflichtlektuere-Magazin (Erscheinungstag: 14. Dezember 2015) erzählt ein weiterer gehörloser Student über seinen Unialltag. Dieser benutzt allerdings besondere Technik im Hörsaal.

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