Nahtoderfahrung: Im Himmel braucht man keine Schuhe

 

 

Unfallbilder 2

Dreiundzwanzig Minuten schlägt das Herz von Christine Stein nicht. Um sie vor dem Tod zu retten, pumpen Chirug*innen per Hand durch ihren offenen Brustkorb. „Macht schnell, wir müssen die Kleine retten!“, rufen sie. Während der Reanimation schaut Christine zu – von oben. 

Drei Wochen zuvor: Am 24. März 2000 ist die damals 19-jährige Christine Stein auf der Landstraße bei Laubach in ihrem Auto unterwegs. Ein LKW, 30 Stundenkilometer zu schnell, fährt in die Fahrerseite und stößt sie von der Straße in einen Graben, dann fällt er selbst auf das Auto. Schwer verletzt wird sie mit dem Rettungshubschrauber ins Krankenhaus gebracht, zu ihren Verletzungen gehören je ein Riss in der Lunge, in der Milz und in der Hauptschlagader – alleine einer davon ist lebensgefährlich.

Unfallbilder 3

Christines Auto nach dem Unfall. (Unfallfotos: Stein)

Die Ärzt*innen machen das Unmögliche möglich: Christine überlebt, trotz dreier Notoperationen und einem Bauch voller Blut.
In der ersten Operation direkt nach dem Unfall schneiden sie ihr den Brustkorb auf, entfernen die Milz, schneiden ein Stück des linken Lungenflügels ab und verschließen die Hauptschlagader mit einer Art Pflaster, einem „Patch“. Doch dieser „Patch“ hält nicht, in einer zweiten Not-OP muss er erneuert werden. Drei Wochen später darf Christine nach Hause, doch kurz darauf reißt die Hauptschlagader erneut. Ihr Bauch füllt sich mit Blut: „Es sah aus, als wäre ich im neunten Monat schwanger“, erzählt sie. Nur durch die Erste-Hilfe-Maßnahmen eines Freundes überlebt sie den Weg ins Krankenhaus, doch während der Operation, bei der ihr Brustkorb erneut aufgeschnitten wird, hört ihr Herz auf, selbstständig zu schlagen.
Bildschirmfoto 2016-07-08 um 15.35.59

Christine Stein, (Foto: Stein)

Bei der dritten Notoperation hat Christine eine Nahtoderfahrung.  „Ich weiß nicht genau wie, aber an diesem Punkt bin ich aus meinem Körper ausgetreten und habe mich aus der Vogelperspektive selbst gesehen. Dann bin ich weiter aufgestiegen und habe mich im Himmel wiedergefunden“, erzählt die heute 35-jährige. Dort sei sie von ihren Großeltern, die vor, bzw. kurz nach ihrer Geburt gestorben sind, mit den Worten „Wir zeigen dir jetzt unser Reich“ in Empfang genommen worden. „Es sah an dem Ort aus wie auf der Erde, nur die Farben waren anders, alles war hellgrau.“ Der Boden sei außerdem sehr weich gewesen, niemand habe Schuhe getragen. Die Menschen hätten auch normal ausgesehen, Christine traf sogar ihre früheren Nachbarn, die beide an Krebs gestorben waren. Sie sahen gesund aus, als wären sie nie krank gewesen. „Es beruhigt mich zu wissen, dass es Menschen, die durch eine Krankheit gestorben sind, im Himmel wieder gut geht.“ 

Was Christine erlebt hat, ist keine Seltenheit. Circa 30 Prozent der Menschen, die einen Herzstillstand überlebt haben, haben auch eine Nahtoderfahrung gemacht, sagt der Mediziner und Psychologe Frank Erbguth. Er arbeitet in der Universitätsklinik für Neurologie in Nürnberg. Dabei sähen sie immer ähnliche Dinge, wie weißes Licht oder einen Tunnel. Das Austreten aus dem Körper und die Vogelperspektive kämen oft vor, dieses Phänomen nennt man auch out-of-body experience. 

So fühlt man sich im Himmel
Es sei ein schönes Gefühl gewesen, im Himmel zu sein, sagt Christine. „Ich habe mich wohl gefühlt, ich fühlte mich wie zu Hause und hatte keine Angst, alle positiven Gefühle waren an diesem Ort vorhanden.“ Doch es ging ihr nicht nur gut. Von oben konnte sie auf die Erde herunterschauen, dorthin, wo ihren Angehörigen keine Hoffnung mehr gemacht wurde, dass sie den Eingriff überleben würde. „Wenn ich an eine Person gedacht habe, war es so, als würde ich durch einen Boden aus Glas gucken und habe sie dann gesehen, als wäre ich mit ihnen in einem Raum. Ich habe an meine Angehörigen gedacht, und gesehen, wie sie im Krankenhaus saßen, sich an den Händen hielten und geweint haben. Das war ein schlimmes Gefühl.“ Der Himmel sei wunderschön gewesen, „aber wenn ich die Wahl gehabt hätte, hätte ich nicht da bleiben wollen. Ich wollte zurück zu meiner Familie.“

Nach 23 Minuten sind die Wiederbelebungsversuche erfolgreich, ihr Herz fängt wieder an, selbstständig zu schlagen. „Du musst zurück, du hast noch eine Aufgabe auf der Erde zu erfüllen“, sagen die Großeltern weinend zum Abschied. Die Chirurgen erzählen Christine nachher, dass ihr während der Operationen Tränen aus den Augen geflossen seien. Dann wacht Christine im Aufwachraum auf. Das Gefühl dort: Kälte. 

Erbguth_Foto_2008_12

Frank Erbguth, (Foto: Erbguth)

Bis 2014 habe man zwar nach Erklärungsansätzen gesucht, sagt Erbguth, aber erst seit 2014 wird systematisch über Nahtoderfahrungen geforscht. Das Phänomen überrascht ihn allerdings nicht. „Wir kennen viele Phänomene der Wahrnehmung, die nichts mit der Realität zu tun haben, wie zum Beispiel den Traum.“ Unter bestimmten Umständen gebe es merkwürdige Wahrnehmungsphänomene, darunter auch die Nahtoderfahrung. 

 

Ein Sonderzustand des Gehirns
Bei einem Herzstillstand kommt es zu einer Grenzsituation für das Gehirn. Es bekommt zu wenig Sauerstoff und seine Zellen stehen kurz vor dem Tod. In diesem Sterbeprozess komme es zu einem Sonderzustand, sagt Erbguth. Dabei sei das Gehirn besonders erregt, es sei sozusagen ein „letztes Aufbäumen“. Dass viele Betroffene ähnliche Dinge gesehen haben spräche für das ähnliche Reaktionsmuster des Gehirns. „Dabei gibt es immer wiederkehrende Muster, die abgespeichert sind und Inhalte, die individuell persönlich sind.“ Nahtoderfahrungen lassen sich auch simulieren, Halluzinationen seien es aber nicht. Trotzdem gebe es einzelne Inhalte der Nahtoderfahrungen, die sich (noch) nicht erklären lassen, so zum Beispiel wie Christine ihrer Familie erzählen konnte, was sie an dem Tag für Kleidung anhatten.

Dass Menschen an dieser Nahtoderfahrung zweifeln, ist für Christine okay. Jede*r müsse für sich entscheiden, ob er oder sie daran glaubt. „Ich will niemanden missionieren, aber meine Erfahrungen weitergeben.“ Generell kann sie nichts mit den wissenschaftlichen Erklärungen anfangen. „Es gibt Nahtoderfahrungen, auch wenn man sie nicht beweisen kann“, sagt sie, „ich weiß, was ich gesehen habe.“

Ihr Leben habe sich seit der Erfahrung auch sehr verändert. „Meine Lebenseinstellung ist ganz anders geworden, ich erlebe alles viel intensiver und bin für jeden neuen Tag dankbar.“ Was sie erlebt hat, möchte sie auch weitergeben und hat über ihre Nahtoderfahrung ein Buch geschrieben. Außerdem habe sie keine Angst mehr vor dem Tod: „Das Leben ist mit dem Tod noch nicht zu Ende – es geht mit dem Himmel weiter.“

Beitragsbild: Louish Pixel /Flickr

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert