Dreiundzwanzig Minuten schlägt das Herz von Christine Stein nicht. Um sie vor dem Tod zu retten, pumpen Chirug*innen per Hand durch ihren offenen Brustkorb. „Macht schnell, wir müssen die Kleine retten!“, rufen sie. Während der Reanimation schaut Christine zu – von oben.
Drei Wochen zuvor: Am 24. März 2000 ist die damals 19-jährige Christine Stein auf der Landstraße bei Laubach in ihrem Auto unterwegs. Ein LKW, 30 Stundenkilometer zu schnell, fährt in die Fahrerseite und stößt sie von der Straße in einen Graben, dann fällt er selbst auf das Auto. Schwer verletzt wird sie mit dem Rettungshubschrauber ins Krankenhaus gebracht, zu ihren Verletzungen gehören je ein Riss in der Lunge, in der Milz und in der Hauptschlagader – alleine einer davon ist lebensgefährlich.

Christines Auto nach dem Unfall. (Unfallfotos: Stein)

Christine Stein, (Foto: Stein)
Bei der dritten Notoperation hat Christine eine Nahtoderfahrung. „Ich weiß nicht genau wie, aber an diesem Punkt bin ich aus meinem Körper ausgetreten und habe mich aus der Vogelperspektive selbst gesehen. Dann bin ich weiter aufgestiegen und habe mich im Himmel wiedergefunden“, erzählt die heute 35-jährige. Dort sei sie von ihren Großeltern, die vor, bzw. kurz nach ihrer Geburt gestorben sind, mit den Worten „Wir zeigen dir jetzt unser Reich“ in Empfang genommen worden. „Es sah an dem Ort aus wie auf der Erde, nur die Farben waren anders, alles war hellgrau.“ Der Boden sei außerdem sehr weich gewesen, niemand habe Schuhe getragen. Die Menschen hätten auch normal ausgesehen, Christine traf sogar ihre früheren Nachbarn, die beide an Krebs gestorben waren. Sie sahen gesund aus, als wären sie nie krank gewesen. „Es beruhigt mich zu wissen, dass es Menschen, die durch eine Krankheit gestorben sind, im Himmel wieder gut geht.“
Was Christine erlebt hat, ist keine Seltenheit. Circa 30 Prozent der Menschen, die einen Herzstillstand überlebt haben, haben auch eine Nahtoderfahrung gemacht, sagt der Mediziner und Psychologe Frank Erbguth. Er arbeitet in der Universitätsklinik für Neurologie in Nürnberg. Dabei sähen sie immer ähnliche Dinge, wie weißes Licht oder einen Tunnel. Das Austreten aus dem Körper und die Vogelperspektive kämen oft vor, dieses Phänomen nennt man auch out-of-body experience.
Nach 23 Minuten sind die Wiederbelebungsversuche erfolgreich, ihr Herz fängt wieder an, selbstständig zu schlagen. „Du musst zurück, du hast noch eine Aufgabe auf der Erde zu erfüllen“, sagen die Großeltern weinend zum Abschied. Die Chirurgen erzählen Christine nachher, dass ihr während der Operationen Tränen aus den Augen geflossen seien. Dann wacht Christine im Aufwachraum auf. Das Gefühl dort: Kälte.

Frank Erbguth, (Foto: Erbguth)
Bis 2014 habe man zwar nach Erklärungsansätzen gesucht, sagt Erbguth, aber erst seit 2014 wird systematisch über Nahtoderfahrungen geforscht. Das Phänomen überrascht ihn allerdings nicht. „Wir kennen viele Phänomene der Wahrnehmung, die nichts mit der Realität zu tun haben, wie zum Beispiel den Traum.“ Unter bestimmten Umständen gebe es merkwürdige Wahrnehmungsphänomene, darunter auch die Nahtoderfahrung.
Dass Menschen an dieser Nahtoderfahrung zweifeln, ist für Christine okay. Jede*r müsse für sich entscheiden, ob er oder sie daran glaubt. „Ich will niemanden missionieren, aber meine Erfahrungen weitergeben.“ Generell kann sie nichts mit den wissenschaftlichen Erklärungen anfangen. „Es gibt Nahtoderfahrungen, auch wenn man sie nicht beweisen kann“, sagt sie, „ich weiß, was ich gesehen habe.“
Ihr Leben habe sich seit der Erfahrung auch sehr verändert. „Meine Lebenseinstellung ist ganz anders geworden, ich erlebe alles viel intensiver und bin für jeden neuen Tag dankbar.“ Was sie erlebt hat, möchte sie auch weitergeben und hat über ihre Nahtoderfahrung ein Buch geschrieben. Außerdem habe sie keine Angst mehr vor dem Tod: „Das Leben ist mit dem Tod noch nicht zu Ende – es geht mit dem Himmel weiter.“
Beitragsbild: Louish Pixel /Flickr