Radikal anders: Radeln frei Schnauze

Die Tour de France war gestern. Ein Kollektiv aus Münster will langweiligen Fahrradrennen den Kampf ansagen und hat deswegen das Start Up „Rad Race“ gegründet. Ihr Motto: Stop Racism, Start Raceism. Und das gilt auch für die Mitfahrer: Bei den Races darf jeder mitrollen. Egal ob Mann oder Frau, alt oder jung, ob Rennrad oder Mountain Bike. Die verrückten Rennformate haben keine Grenzen. Wir haben „Rad Race“-Gründer Ingo Engelhardt beim Rennen in Berlin begleitet. 

Die Rennbahn auf der Straße des 17. Juni in Berlin erinnert am 30. Mai um 9 Uhr früh noch an ein verlassenes Dorf im Wilden Westen. Es ist ruhig, fast gespenstisch. Der Wind bläst leere Getränkebecher und alte Zeitungen über die Straße wie Steppenläufer. Kein Mensch ist zu sehen, Berlin schläft noch. Nur ein grüner Truck fährt am anderen Ende der Bahn langsam vorwärts.

Plötzlich öffnen sich die Türen des Fahrzeugs und drei Männer springen heraus. Sie tragen neonfarbene Schuhe, T-Shirts mit dem Aufdruck einer Sportmarke und Sonnenbrillen und beginnen damit, rote und schwarze Banner an der Strecke anzubringen. Einer von ihnen ist Ingo, der 37-jährige Gründer des Rad Race, einem StartUp für Fahrradrennen, das in Europa einzigartig ist. Rad Race, das steht für „Radikales Fahrradrennen“.

Radikal sind dabei vor allem die Rennstrecken: Ob „Last Man Standing“ in einer engen Kartbahn oder 11 Kilometer steil den Berg hoch – die Fahrer müssen sich auf extreme Bedingungen und die ein oder andere Verletzung einstellen. Inspiriert sind diese Art von Rennen unter anderem an Formaten wie dem „Red Hook Crit“ aus New York. Bei diesen Undergroundrennen gingen ursprünglich Fahrradkuriere an den Start. Doch einige Formate des Rad Race sind trotzdem einzigartig: An diesem Tag soll ein „Battle“, ein Rennen Mann gegen Mann, bei dem immer jeweils der Sieger weiter kommt und am nächsten Tag das so genannte „Fixed 42“, einem Rennen auf einer Marathonstrecke quer durch Berlin ausgetragen werden.

Keinen Bock mehr auf langweilige Fahrradrennen

Sechs Stunden vor dem Startschuss für das Battle ist für Ingo und sein zehnköpfiges Team noch einiges zu tun: Die gesamte Strecke muss vorbereitet und die Technik installiert werden. Probleme bleiben dabei nicht aus. Die Start-Rampe, die das Kollektiv zuvor für ein anderes Rennen verliehen hat, ist ohne Schrauben zurück gekommen. Aber Ingo bleibt ruhig. „So was ist scheiße, aber dann fahren jetzt halt zwei von den Jungs in den Baumarkt und besorgen neue Schrauben.“, sagt er und springt auf die Ladefläche des Trucks, um mit seinen schwarzen Handschuhen weitere Banner für die Strecke herauszuholen.

Geld oder professionelle Hilfe bekommt das Rad Pack, wie sich Ingo und sein Team nennen, keine. Seit einem Jahr organisieren sie die ausgefallenen Fahrradrennen und geben dafür all ihr Erspartes und ihre Freizeit her. „Ich hatte einfach keinen Bock mehr auf langweilige Fahrradrennen, die jeder schon tausendmal gesehen hat. Dann hab ich eines Morgens alle Kumpels angerufen, von denen ich dachte, die würden mitmachen und gefragt, ob sie dabei wären… Und alle haben ja gesagt.“, sagt der Münsteraner stolz. Innerhalb eines Jahres hat sich das Rad Race von einem Geheimtipp zu einem beliebten Szene-Rennen gemausert.

Stop Racism, Start Raceism

Gegen zwölf Uhr beginnt auf und um die Rennbahn ein immer geschäftigeres Treiben und der Andrang am Anmeldestand wächst. In der Schlange für das Rennen stehen die unterschiedlichsten Typen: Schräge Paradiesvögel mit Zottelbärten, Tattoos und Kappen, die an die drei Jungs aus der Pit-Stop-Werbung erinnern, ambitionierte Sportler in engen, bunten Nylonanzügen und mit aerodynamischen Sonnenbrillen, und – wenn auch seltener – die ein oder andere Frau. Das Motto der Veranstaltung lautet „Stop Racism, Start Raceism“. Hautfarbe, Herkunft, Religion oder Geschlecht zählen beim Rad Race nicht. Auch diesmal sind Fahrer mit verschiedensten Nationalitäten dabei: Unter anderem aus Frankreich, Spanien, den Niederlanden, Großbritannien und Israel. Und auch ansonsten wird beim Battle niemand ausgeschlossen. Egal in welcher Montur, egal mit welchem Fahrrad – jeder darf mitmachen. „Wer will, darf auch mit seinem Hollandrad antreten.“, erklärt Ingo grinsend. Dennoch: Am häufigsten vertreten sind die hippen Fixed-Gear-Räder (zu deutsch: „Strammer Gang“), kurz Fixies, die zwar normalen Rennrädern ähneln, aber weder eine Bremse, noch einen Leerlauf oder eine Gangschaltung haben.

Das Rad Race ist ein großes Sehen und Gesehen werden. Neben dem Rennen geht es vor allem darum, möglichst häufig auf seinem auffälligen Fixie fotografiert zu werden und mit anderen Leuten aus der Fahrradszene in Kontakt zu kommen. In dieser Szene sind Ingo und sein Team, die auch selbst Fahrradrennen fahren, bekannt wie bunte Hunde. Gerade Ingo fällt es schwer, die letzten Aufbauarbeiten zu Ende zu bringen. Immer wieder wird er von Bekannten angesprochen, die ihm für sein Engagement danken oder einfach mit ihm über ihr neues Fahrrad quatschen wollen. Da hilft auch seine verspiegelte Sonnenbrille wenig. Aber gerade der Dank und Respekt, den Ingo und das Rad Pack von der wachsenden Mitfahrerschaft erhalten, sind ihnen besonders viel wert: „Wir verdienen ja nicht wirklich an den Leuten. Das ist einfach nur unsere Leidenschaft.“ Trotzdem hofft das Team, von denen manche eigentlich als Anwälte oder in der Werbung arbeiten, eines Tages mit dem Rad Race schwarze Zahlen zu schreiben.  „Vielleicht so in sechs Jahren.“, mutmaßt Ingo, der zusammen mit einem Freund 51 Prozent der Firma besitzt. 

Der Lohn für Schweiß und Tränen

Um 15 Uhr heißt es dann endlich „3, 2, 1, KICK IT!“ Ingo brüllt sich für die nächsten drei Stunden die Stimme am Mikrofon heiser und feuert die Fahrer an, die sich im Battle die Seele aus dem Leib radeln. Hin und wieder wirft er seinem Team-Mitglied Ali einen strengen Blick zu, weil der in einem Truck alternative Musik auflegt und zwischendurch Ingos Durchsagen einfach musikalisch überschallt. Cool sein reicht eben nicht immer, um ein Event diesen Ausmaßes auf die Beine zu stellen. Als die Sonne schon tief steht, darf Ingo endlich sechs glückliche Sieger mit gesponsertem Fahrradequipment und selbst gebauten Trophäen küren. Für ihn und das Rad Pack ist der Tag aber noch lange nicht vorbei.

Während die Radfahrer sich abends in einem hippen Fahrradladen zum Feiern treffen, heißt es für die Münsteraner abbauen und das großen Marathonrennen am nächsten Tag planen. Warum sich der ganze Stress trotzdem lohnt? Ingos Antwort, während er seinen Blick über die inzwischen wieder leere Rennstrecke schweifen lässt: „Weil ich diese fragenden Gesichter von unseren nicht Rad fahrenden Freunden liebe, die wissen wollen, warum wir das machen, und die es nicht verstehen können, warum man mitten in der Nacht Gitter im strömenden Regen durch die Gegend schleppt. Weil ich immer noch jeden Tag in den Spiegel gucken will und ich mir dann sagen kann: Wir haben es versucht. Wir haben alles gegeben. Wir haben es einfach gemacht.“

Fotos von der Rennstrecke:

 

Beitragsbild: Carla Sommer

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