Jüdisches Leben im Ruhrgebiet

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Eine junge Jüdin in Bochum | Stolpern als Weckruf | Als die Synagogen brannten |
Die Hölle Westdeutschlands | Koscher im Pott | Zu Besuch bei Makabi Dortmund

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„Nicht jeder nimmt es so, wie man es nehmen sollte“ – Eine junge Jüdin in Bochum

Die eigene Religionszugehörigkeit scheint heute keine allzu große Rolle mehr unter jungen Menschen zu spielen. Für die Meisten gehört sie einfach dazu und beeinflusst den Alltag kaum. Trotzdem spricht Lina* nicht mit jeder Person über ihren Glauben. Die 25-jährige Jüdin ist im Ruhrgebiet aufgewachsen, zur Schule gegangen, hat hier studiert und lebt gerne in Deutschland. Ihre Religion hat ihr bis jetzt zwar nie im Weg gestanden, trotzdem vermisst sie einen natürlichen Umgang mit ihrem Glauben. Warum Lina sich im aufgeklärten und modernen Deutschland trotzdem manchmal gerne einigeln würde und wie die jüdische Religion ihr Leben bisher geprägt hat, erzählte sie Jana Brauer und Nora Frerichmann.

*Name von der Redaktion geändert

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Von Jana Brauer & Nora Frerichmann

Stolpern als Weckruf

Jeder Stein steht für ein persönliches Schicksal, eine traurige Geschichte von Verlust, Vertreibung und Tod. Gleichzeitig ist jeder Name aber auch ein Appell und Weckruf an die Gesellschaft, dass sich solche grausame Verbrechen niemals wiederholen dürfen. In ganz Deutschland, aber auch im europäischen Ausland, sind diese metallenen Mahnplatten zu finden. Auch in Dortmund sind in den Gehwegen Stolpersteine eingebaut, die an den Massenmord der Nationalsozialisten erinnern. Sie markieren Orte, an denen Menschen lebten, die von den Nazis verfolgt und ermordet wurden, weil sie Juden waren, auf Seiten der Kommunisten standen oder schlichtweg gegen das verbrecherische System aufbegehrten. Der Künstler Günter Demnig erinnert hier, wie auch anderswo in Deutschland, an die unzähligen Opfer des Nazi-Regimes. Ein Rundgang.

Von Franziska Jünger

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Als die Synagogen brannten

Es ist das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte: Der Nationalsozialismus führte zum zerstörerischsten Krieg der Weltgeschichte und zu unvorstellbarem Leid für Millionen Menschen. Eine Gruppe steht dabei häufig im Fokus, ist ihr Leid doch auch bis heute unbegreiflich. Systematisch hatten die Nazis die jüdischen Bürger in der deutschen Bevölkerung aus allen Lebensbereichen ausgegrenzt. Es folgte der beispiellose Massenmord in den Todeslagern der Nationalsozialisten. Auch Dortmund verfügte bis 1933 über eine alteingesessene jüdische Bevölkerung. Wie es den Mitgliedern der Gemeinde unter den Nationalsozialisten erging, erforscht der Historiker Dr. Rolf Fischer.

Dr. Rolf Fischer, Historiker

Dr. Rolf Fischer, Historiker. Foto: privat

Herr Fischer, Sie arbeiten gerade an einem Gedenkbuch zu den verfolgten und ermordeten Juden in Dortmund. Wieso ist es Ihnen so wichtig, an die NS-Verbrechen zu erinnern?
Das ist richtig. Als ich mit meiner Arbeit an dem Gedenkbuch vor etwa 10 Jahren begann, wusste man noch relativ wenig über die Ereignisse und Ausmaße der Verbrechen in Dortmund, vor allem ab Beginn der Deportationen. Auch die individuellen Schicksale sind oft noch im Dunkeln geblieben. Dies ist mir ein besonderes Anliegen. Mit dem Buch möchte ich nun jedoch die Geschichte endlich komplett aufarbeiten. Es wird aus zwei Teilen bestehen, zum einen aus einer dokumentarischen Namensliste, die alle Dortmunder erfasst, die zwischen 1933 und 1945 Opfer des Holocaust wurden. Zum anderen besteht das Buch aus einer Darstellung der wichtigsten historischen Ereignisse in den Jahren der NS-Herrschaft.

Wie sah das jüdische Leben in Dortmund vor 1933 aus?
Zu Beginn der NS-Herrschaft lebten etwa 4200 Jüdische Bürger in Dortmund. Das waren nie mehr als ein Prozent der Bevölkerung, also eine relativ kleine Minderheit. Mit Beginn der Deportationen ab Ende 1941, lebten nur noch 1200 Juden in Dortmund. Die anderen haben mindestens das Land, oft sogar Europa verlassen, um sich in Sicherheit zu bringen. Die jüdische Bevölkerung Dortmunds lässt sich in dieser Zeit grob in zwei Gruppen einteilen. Zum einen gab es die alteingesessenen Juden, die in bürgerlichen oder intellektuellen Berufen arbeiteten und zu meist im heutigen Gerichtsviertel um die Kaiserstraße und die Prinz-Friedrich-Karl-Straße lebten.
Die zweite Gruppe waren die sogenannten Ostjuden. Sie machten etwa ein Drittel der jüdischen Bevölkerung aus und waren zumeist polnischer Abstammung. Dieser Bevölkerungsteil ist etwa ab 1900 eingewandert, weil sich im Dortmunder Raum eine florierende Wirtschaft entwickelte. Sie unterschieden sich soziokulturell stark von den alteingesessenen Juden. Beispielsweise mieden sie ausdrücklich die große Synagoge der liberalen Dortmunder Gemeinde. Aber auch ihr Wohngebiet war ein anderes. Sie lebten meist an der Münsterstraße, Leopoldstraße oder Steinstraße. Aber ein wirkliches jüdisches Viertel gab es in Dortmund nie.

Was änderte sich mit Beginn der nationalsozialistischen Machtergreifung im Jahr 1933?
Mit Beginn der Machtergreifung änderte sich die Stimmung gegen die jüdische Bevölkerung natürlich dramatisch. Schon in den Monaten zuvor kippte die Stimmung ja und viele jüdische Bürger begannen auszureisen, aber jetzt setzte wirklich eine Migration ein. So änderte sich das Leben der Juden sofort recht drastisch, direkt nach der Machtergreifung wurden die ersten Boykotts der jüdischen Geschäfte organisiert. Auf die Schaufenster wurden auch die großen gelben Sterne gemalt. 1933 fand ja auch direkt die Bücherverbrennung statt, in Dortmund auf dem Alten Markt und noch eine in Aplerbeck. So war die erste Phase der Unterdrückung, die Ausschaltung der Juden aus dem öffentlichen Leben, also die Verdrängung aus dem Beamtenapparat und öffentlichen Dienst sowie aus dem kulturellen Bereich.

Welche Repressionen hatten die Juden in Dortmund zu erleiden?
Bis 1936 setzte dann die Gesetzgebung ein und unterdrückte die jüdische Bevölkerung im damaligen Deutschen Reich. 1936 bezeichnet man hingegen häufig als das Jahr der relativen Ruhe. Zu diesem Zeitpunkt fanden nämlich die Olympischen Spiele in Deutschland statt und Hitler wollte keine negative Presse. Vorher hatte es aber bereits die Nürnberger Gesetze gegeben und die ganzen Gesetze, die für die wirtschaftliche Ausplünderung und soziale Isolation der Juden sorgten, setzten dann wieder 1937 und vor allem ab 1938 verstärkt ein.

Wie verlief die Pogromnacht im Jahr 1938?
Die bekannte Pogromnacht ist sicher das einprägsamste Ereignis in der Verfolgung der Juden. Dem voran gegangen ist in Dortmund aber ein anderes Ereignis in 1938. Dort wurden Dortmunder Juden polnischer Staatsangehörigkeit an die polnische Grenze gebracht, um sie dort zwangsweise abzuschieben. Sie wurden damals wirklich in einer Nacht-und-Nebel-Aktion verschleppt und durften nichts von ihrem Besitz außer einem Handkoffer und 10 Reichsmark mitnehmen. Über diese Aktion und ihre weiteren Schicksale wusste man noch sehr wenig. Hier bestand meine Arbeit dann wirklich darin, alle möglichen Quellen zu studieren.
Die Pogromnacht selbst verlief in Dortmund nicht viel anders als in anderen Städten Deutschlands. Jüdische Geschäfte wurden zerstört, Bürger misshandelt und verschleppt. Ihr ganzer Besitz lag am nächsten Morgen in Trümmern, das weiß man von Berichten über die Münsterstraße beispielsweise. Aber eine Sache lief in Dortmund anders. Die große Synagoge, die zuvor das sichtbarste Zeichen im Stadtbild bildete, wurde schon vorher zerstört. Schon drei, vier Wochen vorher wurde sie bereits abgerissen, weil die NSDAP ihren Sitz direkt gegenüber der Synagoge hatte, dort wo heute das Stadttheater steht. Und die Parteimitglieder wollten das Gotteshaus möglichst schnell loswerden, mit dem Argument, man brauche Parkplätze.

Wie vergingen die Jahre bis 1939?
Direkt in der Folge der Pogromnacht setzte eine wahre Gesetzesflut ein, die für die Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben sorgten. Dies hieß, dass den jüdischen Geschäftsleuten ihre Firmen abgenommen wurden. Das nannte man Arisierung. Ihre Existenzen wurden quasi auf dem Jahrmarkt verschleudert. Am Steinplatz beispielsweise war ein großes Warenhaus, das den jüdischen Besitzern abgenommen wurde. Bei Kriegsbeginn ist dieser Prozess dann völlig abgeschlossen. Damit hatten die Juden eigentlich keine Möglichkeit mehr, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Viele wurden dann bereits zu Zwangsarbeit gezwungen. Zunächst war ja bei den Nationalsozialisten noch das Ziel vorrangig, die jüdischen Teile der Bevölkerung zur Ausreise zu drängen. Einfacher gesagt: Die sollten gehen. Die sogenannte Endlösung der Judenfrage, also die Vernichtung der gesamten jüdischen Bevölkerung, war damals noch keinesfalls beschlossen.

Wie veränderte sich da die Lage der Dortmunder Juden mit dem Kriegsausbruch?
Im Prinzip waren die Juden zu Beginn des Krieges Geiseln des Regimes. Immer mehr Verordnungen begrenzten ihre Lebensmöglichkeiten. Man musste Radios, Fahrräder abgeben, die Lebensmittelrationen wurden immer weiter gekürzt. Ab 1. September 1941 mussten die Juden auch den Judenstern tragen. Dies war nach vielen Quellen für viele Bürger nach all dem Leid noch einmal sehr schrecklich. Etwa sechs oder acht Wochen später kippt mit einem Ausreiseverbot für Juden auch die alte Politik, die Juden zur Ausreise zu treiben. Dann wurden die Juden zudem gezwungen in sogenannte „Judenhäuser“ zu ziehen. An diesen Häusern gab es außen auch einen gelben Stern. Davon gab es in Dortmund wohl etwa 60 Häuser, häufig in der Münsterstraße, Steinstraße und Leopoldstraße.
Im Herbst 1941 fällt die Entscheidung über die Endlösung der Judenfrage. Ab dann war klar, dass das Nazi-Regime die wirklich fabrikmäßige Ermordung der jüdischen Bevölkerung plante. Da spielte sicher auch der katastrophale Kriegsverlauf eine Rolle: Die USA traten gegen Deutschland in den Krieg ein und gleichzeitig nahm der Ostfeldzug gegen die Sowjetunion eine dramatische Wende.

Wohin brachte man die Dortmunder Juden? Gib es genau Zahlen zu Ermordeten, Vermissten?
Um die Jahreswende 1941/42 begannen auch die Deportationen im Deutschen Reich. In Dortmund gab es vier große Deportationen, die fast alle 1200 in Dortmund verbliebenen Juden erfassten. Die erste fand am 27.Januar 1942 nach Riga statt. Die zweite im April ins Ghetto Zamość in Polen, im Juli nach Theresienstadt und die letzte Deportation fand am 1.März 1943 statt. Dann brachte man die letzten verbliebenen Juden nach Auschwitz. Noch im September 1944 brachte man die Bürger, die in sogenannten „Mischehen“ lebten oder Kinder von einem jüdischen und christlichen Elternteil in Arbeitslager nach Weißenfels und Halle an der Saale.
Den Holocaust überlebt haben vor allem die, die aus den Mischehen, die man oft auch als privilegierte Juden bezeichnete. Es ist recht schwer genau zu sagen, wie viele Dortmunder Bürger überlebt haben, weil sich nur für eine Deportation eine Liste erhalten hat.

Welche Rolle spielte die berüchtigte Steinwache?
Sie war ja in ganz Westdeutschland als „Hölle“ verschrien. Nach der Pogromnacht wurde ein Großteil der männlichen Dortmunder Juden nach Sachsenhausen gebracht und zuvor in der Steinwache gesammelt und für Wochen inhaftiert. Die Wache war also der zentrale Ort für Folter und Misshandlung in der Region.

Im Jahr 1945, direkt nach Kriegsende, wurde in Dortmund die Jüdische Kultusgemeinde wieder gegründet. Wie lange dauerte es, bis sich wieder ein jüdisches Leben in Dortmund etablierte?
Nach Kriegsende sind etwa 150 bis 230 Juden nach Dortmund zurückgekehrt. Das ist aber nicht deckungsgleich mit der wirklichen Zahl der Überlebenden. Diese Juden haben dann wieder eine provisorische Gemeinde gegründet. Viel später erst wurde dann eine kleine Synagoge neu gegründet.

In der Steinwache und zahlreichen Gedenkstätten wird an die Geschichte der Juden erinnert. An welchen Stellen ist heute noch jüdisches Leben in Dortmund sichtbar?
Sicherlich an der Synagoge in Dortmund. Aber wirklich sichtbar ist das Leben natürlich nicht mehr. Aber auch vor 1938, natürlich mit Ausnahme der großen Synagoge, war das jüdische Leben in Dortmund nie so sichtbar wie in anderen großen Städten. Ein jüdisches Viertel gab es nie.

Dr. Rolf Fischer ist freiberuflicher Historiker und Autor. Er arbeitet im Gewerbehof an der Rheinischen Straße seit Jahren an einem umfangreichen Werk über das Schicksal der Dortmunder Juden während der NS-Zeit.

Von Timm Giesbers

Die Hölle Westdeutschlands

Dutzende schwere Stahltüren. Winzige Zellen. Nur fahles Tageslicht dringt durch das kleine Fenster. Es muss die Hölle gewesen sein, hier einzusitzen. Das ehemalige Gestapo-Gefängnis, heute als Gedenkstätte Steinwache bekannt, liegt direkt am Dortmunder Bahnhof. Auch viele deutsche Juden erlebten hier den Terror eines menschenverachtenden Systems. In Innern des Gefängnisses befindet sich heute die Ausstellung „Widerstand und Verfolgung in Dortmund 1933-1945“. Besuchergruppen aus der Umgebung werden hier für das Schicksal von Häftlingen während des Nationalsozialismus sensibilisiert und erfahren viel über eine Zeit, die erst 69 Jahre zurückliegt.

Von Teresa Bechtold, Timm Giesbers und Franziska Jünger

 

Koscher im Pott

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Bastian Brezke ist Koch in der jüdischen Gemeinde in Dortmund. Er selbst ist kein Jude und musste die Essensgebote erst lernen. Dabei halfen ihm seine Mitarbeiter in der Küche. Aber auch von Rabbiner Avichai Apel bekommt er Ratschläge, wie mit den vielen Regeln und Geboten der jüdischen Traditionen umzugehen ist.
Fotos: Giesbers/Jünger

Bastian Brezke bekocht jeden Tag die Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Dortmund mit gesundem und vor allem koscheren Essen. Koscher, das ist der Kernbegriff der jüdischen Essensgebote. Und davon gibt es eine Menge. Schweinefleisch ist nicht erlaubt, Milch und Fleisch wird getrennt. Juden, die sich streng an diese Regeln halten, haben sogar die Küchengeräte, Schüsseln und Besteck doppelt: einmal für Fleisch – einmal für Milchprodukte. Als Berater für die Küche steht in Dortmund der Rabbiner der Gemeinde, Avichai Apel, bereit. Damit am Ende auch alles koscher ist, was auf dem Teller landet.

Von Timm Giesbers und Franziska Jünger | Montage: Christian Teichmann

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Zu Besuch bei Makabi Dortmund

Dimitrij liebt Fußball über alles. Der gebürtige Russe hat in seiner Heimat gespielt, da war er noch ein kleiner Junge. Jetzt sucht der Taxiunternehmer nach einem Ausgleich zum Alltag und findet ihn im Verein Makabi e.V in Dortmund. Der Sportverein wird von der jüdischen Gemeinde getragen, die meisten der Mitglieder sind jüdischen Glaubens. Dabei steht hier vor allem eines im Vordergrund: der Sport.

Von Teresa Bechtold und Timm Giesbers

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Zusammen!Lecker!Erinnern!Drüben!

Teaserbild: chrisandre / pixelio.de | Fotomontagen: Christian Teichmann

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