Zwei Stunden Kunst statt „Krickelkrakel“

Dicke Bücher belasten den Rücken, im Kino zahlt man für Überlänge drauf. Zeit ist Geld – im wahrsten Sinne. Wofür also die knappe Freizeit verwenden? Wir lesen, spielen und schauen für euch – nach zwei Stunden hören wir auf. Entweder, weil wir fertig sind oder weil die Zeit um ist. Heute üben wir Schönschrift – fast so wie damals in der Grundschule. Der Wecker ist gestellt, los geht’s:

„Handlettering“ erobert zurzeit das Netz: Auf Pinterest und Instagram zeigen immer mehr Blogger, wie sie aus Buchstaben ganze Kunstwerke erschaffen. Was für unsere Großeltern selbstverständlich war, ist heute ein Social-Media-Trend. Statt schnell etwas in die Tasten zu hauen, wird wieder der Stift in die Hand genommen. Nach der Grundschulzeit wird normalerweise der Füller gegen einen Kugelschreiber getauscht, Einladungen werden gemailt und Geburtstagskarten im nächsten Geschäft gekauft, damit jeder nur noch unterschreiben muss. Aber es geht auch anders. 

Schnelldurchlauf

Feder in die Tusche tauchen, schreiben, fertig: soweit der Plan, als ich den Dortmunder Kulturort „Depot“ betrete. Damit es mit der Schönschrift professionell klappt, besuche ich das Atelier von Heike Kollakowski. Schließlich gehört die Schönschrift für die Diplom-Designerin zum Beruf.

Mit der schrägen Spitzfeder schreibt man automatisch im 45 Grad-Winkel. Foto: Pia Billecke

Zwei Stunden lang geht es bei ihr um die Kalligrafie mit der Spitzfeder. Während beim „Handlettering“ mit Stiften und Pinseln ein ganzes Kunstwerk geschaffen wird, möchte ich zunächst mit der Grundlage anfangen: einzelnen Buchstaben. Denn da besteht Nachholbedarf. Während ich in den Vorlesungen nur wahllos auf mein Blatt kritzele, geht es nun um Präzision. 

Bei der Kalligrafie wird nichts dem Zufall überlassen. Welcher Strich dick sein muss, welcher dünn und wo Verzierungen das Bild abrunden sollen, ist vorgegeben. Dabei orientieren sich die meisten Stile an der englischen Schreibschrift. Die erkennt man an der extremen Schräglage – die Wörter werden also kursiv geschrieben. Ebenfalls typisch: Einzelne Buchstaben, meist am Anfang des Wortes, stechen wegen besonders auffälliger Verzierungen hervor. Umso schwieriger ist es aber, die Feder so über das Blatt zu bewegen, dass die Schreibschrift am Ende auch erkennbar ist.

Immerhin habe ich nach zwei Stunden trotzdem ein Glückserlebnis: Mein Name ist in schwarzer Tusche halbwegs vernünftig zu erkennen. Während ich mich sonst immer beschwere, einen so kurzen Namen zu haben, bin ich heute mehr als froh darüber. 

 

Langatmig 

Ein einfacher Strich hat mich noch nie so viele Nerven gekostet. Doch selbst beim Schönschreiben ist das Aufwärmen Pflicht. Und das funktioniert eben nur, indem ich Reihe für Reihe Striche und Kringel übe. „Erst eine ganz feine Linie machen, dann dicker werden und am Ende wieder ganz dünn“, lautet die Anweisung der Künstlerin.

Um ein Gefühl für die Feder zu bekommen, fängt man mit Strichen und Kringeln an. Foto: Billecke

Um Effekte mit der Feder und Tusche zu erschaffen, sind die richtige Handhaltung und vor allem der richtige Druck wichtig. Und da wird es fast schon mathematisch: Geschrieben wird im 45 Grad-Winkel zum Blatt. Für eine feine Linie muss ich mit der Feder quasi über das Blatt schweben. Denn übe ich Druck aus, spreizt sich die Federspitze und es wird mehr Tinte freigegeben.

Das Ergebnis nach dem Aufwärmen: Meine Striche werden entweder immer dann dick, wenn sie dünn sein sollen, oder sind erst gar nicht zu sehen, weil zu wenig Tusche auf der Feder ist. Aber wer Kalligrafie lernen möchte, muss geduldig sein. „Das ist eben eine Übungssache“, sagt Heike Kollakowski. 

Momentaufnahme

Die Uhr im Atelier tickt leise vor sich hin. Wie spät es gerade ist, kann ich trotzdem nicht sagen. Dafür ist das weiße Blatt Papier vor mir auf dem Tisch einfach zu spannend. Der erste Buchstabe meines Namens, das P, bereitet mir Sorge. Zum einen gelingen mir die Rundungen nicht, zum anderen frage ich mich: Lieber noch mehr Schnörkel? Vor einer Stunde hätte ich mich für so ein banales Problem selbst ausgelacht. Doch einmal mit der Kalligrafie angefangen, packt mich der Drang nach Perfektion.

Konzentration ist bei jedem Buchstaben gefragt. Foto: Heike Kollakowski

Ein seltsames Geräusch macht mich zudem nervös. Wenn ich mit der Feder über das Papier gehe, ist ein Kratzen nicht zu überhören. Doch die Expertin beruhigt. „Solange man das Papier nicht wirklich mit ausreißt, ist das kein Problem“, sagt Heike Kollakowski. Bei ihr zeigt sich die jahrelange Übung. Die Künstlerin führt die Feder so geschmeidig über das Blatt, dass das unbeliebte Kratzen völlig ausbleibt. 

Nur die Musik, die im Hintergrund läuft, ist währenddessen im Atelier zu hören. Die Melodien erinnern ein bisschen an eine Wanderung durch den Märchenwald. Und tatsächlich ist man nach inzwischen rund eineinhalb Stunden in einer anderen Welt angekommen. Und in dieser Welt muss man sich eben um nichts anderes Gedanken machen als darum, ob das P so nun auch wirklich gut aussieht. 

Zeit ist um 

Eines ist nach zwei Stunden klar: Wer sich für Kalligrafie interessiert, muss auch mal langsam arbeiten können. Was ich in den zwei Stunden – außer verschnörkelter Buchstaben – gelernt habe, ist, sich für Dinge wieder Zeit zu nehmen. Dann wird nicht nur das Ergebnis besser. Auch Entspannung ist ein Nebeneffekt beim Schönschreiben. 

Um die nächste Einladungskarte selbst kunstvoll beschriften zu können, reichen zwei Stunden allerdings nicht aus. Damit das Ergebnis wirklich etwas mit Kunst zu tun hat, muss man regelmäßig üben. Nach meinen Übungsstunden bin ich mir aber sicher, dass sich der Aufwand lohnt – spätestens, wenn an Weihnachten selbst geschriebene Wünsche in die Briefkästen der Freunde flattern. Allein eine schwungvoll geschriebene Anschrift auf einem Briefumschlag hat heutzutage schließlich Seltenheitswert. Mich hat der Ehrgeiz auf jeden Fall gepackt. Und außerdem habe ich ja noch einen Nachnamen, der geschrieben werden will.

Und wer wirklich sehr, sehr viel Zeit investiert, kann am Ende dann vielleicht auch solche Kunstwerke erschaffen: 

 

 

Beitragsbild: Pia Billecke

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