„Der Osten hat aufgeholt“

Briefmarke Deutsche Einheit

Am Samstag feiert Deutschland 25 Jahre Wiedervereinigung, doch wirtschaftlich gesehen bestehen noch immer große Unterschiede zwischen Ost und West. Prof. Dr. Joachim Ragnitz vom Wirtschaftsinstitut ifo erklärt im Interview warum das so ist – und warum es sich für junge Leute trotzdem lohnen könnte, in den Osten zu gehen.

Herr Ragnitz, stellen Sie sich vor, Sie wären ein junger Mensch mit einer abgeschlossenen Ausbildung oder einem abgeschlossenen Studium und suchten jetzt nach einem Job: Würden Sie eher den Westen oder den Osten Deutschlands bevorzugen?

Das ist eine sehr schwierige Frage, da in diese Entscheidung viele Faktoren mit hineinspielen. Aus rein ökonomischer Sicht würde ich aber den Westen Deutschlands bevorzugen, da ich dort höhere Löhne und bessere Karrierechancen erwarten könnte.

Warum ist der Osten für junge Menschen wenig attraktiv?

Es gibt relativ große Abwanderungen aus den östlichen Gebieten, obwohl viele junge Leute, vor allem Studenten, hier gute Studienmöglichkeiten vorfinden und diese auch nutzen. Das Problem ist, dass viele große Unternehmen aus dem Westen Studierende im Osten schon auf dem Campus abwerben. Außerdem ziehen viele Absolventen weg, da sie glauben, im Westen eher einen Job zu finden. Die wirklich attraktiven Arbeitsplätze, beispielsweise für Ingenieure oder in der Forschung, fehlen in den neuen Bundesländern. Gäbe es adäquate Jobangebote auch hier, würden auch mehr Absolventen bleiben.

Die Unterschiede in Zahlen (Quelle: Statistisches Bundesamt)

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Wie hat sich die gesamtwirtschaftliche Situation in Deutschland seit der Wiedervereinigung entwickelt?

Ganz klar ist, dass der Osten aufgeholt hat. Hatte er 1990 lediglich ein Drittel der Wirtschaftskraft des Westens, sind es heute rund drei Viertel. Das führte dazu, dass sich auch die Lebensbedingungen, vor allem in den Städten wie Leipzig oder Dresden, den westlichen Standards angeglichen haben. Jedoch gibt es regionale Differenzen. Einige Landesteile, die vor allem ländlich geprägt sind, sind bei dieser Entwicklung weit abgeschlagen, sodass der Angleichungsprozess noch nicht überall vollendet werden konnte. Insgesamt muss man aber sagen, dass man mit dem Ergebnis zufrieden sein kann. In den Neunziger Jahren hatten wir in Deutschland große Probleme; es herrschte eine hohe Arbeitslosigkeit. Seit 2005 haben wir wieder ein Wirtschaftswachstum, mehr Beschäftigung, höhere Einkommen und mehr Wohlstand, sodass wir heute als eine der stärksten Volkswirtschaften gelten.

In Ostdeutschland sind die wirtschaftlichen Bedingungen um einiges schlechter als im Westen. Die Arbeitslosenquote ist mit zehn Prozent höher als im Westen und die Erwerbstätigenzahl sinkt weiter. Dabei müsste Ostdeutschland mit seinen niedrigen Lohnkosten doch eigentlich ein lukrativer Standort für Unternehmen sein…

Für Unternehmen aus Westdeutschland, die hier mit der gleichen Produktivität arbeiten könnten, wäre ein Umzug in den Osten durchaus profitabel. Das Problem ist, dass Unternehmen dann lieber direkt in Standorte investieren, die noch günstiger sind. Sie würden dann eher Polen oder ein anderes osteuropäisches Land wählen. Ein großes Problem, dass für Unternehmen im Osten besteht, ist die geringe Kaufkraft der Bevölkerung, die in Zukunft noch weiter sinken wird. Es gibt einige heimische Unternehmen, die den Markt bereits abdecken. Anderen potenziellen Ansiedlern fehlen hier die gut ausgebildeten Fachkräfte, die sie eher im Westen Deutschlands vorfinden. Es bleiben nur die niedriger Qualifizierten zurück und ein Teufelskreis entsteht.

„Bald wird es eher ein Nord-Süd-Gefälle geben.“

Welche Branchen sind in den neuen Bundesländern stark und könnten den Osten aus diesem Teufelskreis herausholen?

Als erstes würde ich den Automobilbau nennen. In den neuen Bundesländern finden Sie viele Produktionsstätten und ein großes Geflecht an Zulieferern vor, die sich hier angesiedelt haben. Die Automobilindustrie ist für den Osten von großer Bedeutung. Er ist der Wachstumsträger der Region. Sehr wichtig ist auch die Metropolregion Berlin. Sie ist der wichtigste Wachstumspol und zieht alle möglichen Menschen an, vor allem aber kreative und gut ausgebildete, die den urbanen Flair mögen. Der „Speckgürtel“ um Berlin herum ist ein Selbstläufer geworden. Weitere wichtige Industriezweige sind darüber hinaus das Chemiegewerbe in der Region Halle-Leipzig und der Maschinenbau in Chemnitz.

Werfen wir einen Blick in die wirtschaftliche Zukunft: Wird es eine weitere Angleichung oder noch größere Unterschiede zwischen beiden Landesteilen geben?

Es wird keine flächendeckende Angleichung geben. Das liegt schon alleine an der Siedlungsstruktur. Es gibt sehr viele, wenig bewohnte ländliche Gebiete im Osten. Dort wird eine Angleichung schwierig umzusetzen sein. Ich glaube hingegen aber auch, dass einzelne Standorte wie Dresden sich an Städte wie Karlsruhe oder Aachen angleichen könnten. Ich bin außerdem überzeugt, dass wir generell weniger zwischen Ost oder West unterscheiden werden, sondern vielmehr zwischen strukturschwachen und strukturstarken Regionen. In dem Zusammenhang wird es meiner Ansicht nach eher ein Nord-Süd-Gefälle in Deutschland geben. Länder wie Thüringen und Sachsen werden sich dem wirtschaftsstarken Bayern angleichen, während Brandenburg eher wie Niedersachsen geprägt sein wird. Bei diesen Regionen werden wir in 20 Jahren von „Problemkindern“ sprechen.

Der Gesprächspartner
cvfoto-ragnitzProf. Dr. Joachim Ragnitz ist Wirtschaftswissenschaftler mit Schwerpunkt Ostdeutschland. Er ist stellvertretender Leiter des ifo-Instituts in Dresden.

 

 

 

Beitragbild: wikimedia / Portrait Ragnitz: ifo-Institut

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