Die Glastür des Dortmunder Kaufhauses geht auf und zu. Menschen gehen rein und raus. Wer in dieser immer gleichen Szene auffallen will, muss etwas Weltbewegendes machen. Macht Gerd Vitte aber nicht. Unauffällig steht er am Eingang und hält das Straßenmagazin Bodo vor seinem Bauch. Er wartet.

Seit neun Jahren verkauft Gerd Vitte das Straßenmagazin Bodo. Er steht unter dem Vordach eines Dortmunder Kaufhauses. Foto: Miriam Sahli
Gerd Vitte ist der schüchterne Verkäufertyp. Er drängt den Menschen keine Bodo auf. „Ich verlange das von niemandem, bin nicht böse, wenn jemand einfach weitergeht.“ Der Name Bodo steht für die Städte Bochum und Dortmund, in denen die Zeitung seit 15 Jahren jeden Monat erscheint – gemacht von freien Autoren, Fotografen und Layoutern, verkauft von Menschen, die bedürftig sind, die vielleicht keine eigene Wohnung haben, bei Bekannten übernachten – im schlimmsten Fall auf der Straße – oder die trotz Hartz IV nicht über die Runden kommen. Vitte ist arbeitslos, bekommt Hartz IV und darf sich mit Bodo etwas dazuverdienen. Meistens sind es weniger als hundert Euro im Monat, denn manche Tage sind ein Debakel. „Montag ist Schontag, die Leute sind schlecht drauf, wollen zurücks ins Wochenende“, sagt Vitte. Darum stellt er sich montags nicht unter das Vordach des Kaufhauses, geht einkaufen oder sucht Arbeit, schreibt Bewerbungen.
Heroin, Gefängnis, Therapien, Rückfälle
Vitte hat zwei Berufe gelernt, findet trotzdem keine Stelle. Seine Vergangenheit steht ihm permanent im Weg. Er war heroinabhängig, saß im Gefängnis, machte Therapien, wurde rückfällig und schaffte es schließlich, von der Droge loszukommen. Bis wieder alles über ihm zusammenkrachte: Vitte verlor seinen Job, seine Wohnung und wusste nicht wohin. Er blieb auf der Straße und bettelte. Die Bilder tauchen wieder in Vittes Kopf auf, sein Gesichtsausdruck wird trüb, bedrückt. Armut ist zermürbend. „Ohne Bodo wäre ich kaputt gegangen. Ehrlich wahr. Die Leute von Bodo haben mir geholfen“, sagt der 47-jährige Vitte.
Vor neun Jahren ging er in die Redaktion und bekam zehn Hefte. Die durfte er verkaufen, das Geld behalten. Unter einer Bedingung: Er musste klar sein im Kopf. Vitte kaufte mehr Hefte. Heute bezahlt er 90 Cent pro Magazin, das er für den doppelten Preis weiterverkauft. Er verdient also 90 Cent daran. Wichtiger als das Geld sei ihm das Gefühl, respektiert zu werden: „Ich mache das für mich. Wenn ich an einem Tag nur wenige oder keine Bodos verkaufe – egal. Ich bin zufrieden. Ich sitze nicht rum, ich mache was.“
Ein Bietender, kein Bettler
Dass Bodo ihm so wichtig ist, ist verständlich. Bodo brachte die Rückverwandlung, reaktivierte seinen Lebensmut. An einem einzigen Tag hatte Vitte damals so viele Bodos verkauft, dass er davon die Kaution für seine Wohnung bezahlen konnte. Er machte eine Entzugstherapie, ist seit sieben Jahren clean. „Bodo hat aus mir jemanden gemacht, der nicht bettelt, sondern der was bietet: ein richtig gutes Heft.“
Für manche Menschen ist Vitte trotzdem so durchsichtig wie die Glastür des Kaufhauses. Andere murmeln Entschuldigungen, wenn sie an ihm mit einem „Beim-nächsten-Mal“-Blick vorbeigehen. Einige geben im eilig ein paar Geldstücke, kaufen sich ein gutes Gewissen, nehmen aber keine Zeitung mit. Vitte findet das würdelos, hält schließlich nicht die Hand auf. Andere bleiben tatsächlich stehen und kaufen ihm eine Bodo ab. Vitte hat viele Stammkunden. Es fällt ihnen auf, wenn er einmal nicht am Dortmunder Hansaplatz steht.
„Bringt Struktur in den Tag – ohne Druck“

Bastian Pütter leitet die Bodo-Redaktion, schreibt mit seinem Team über Kulturelles und Soziales. Foto: Miriam Sahli
Bodo hatte für den Vitte genau die positiven Effekte, die sich Redaktionsleiter Bastian Pütter (34) vom Straßenmagazin verspricht: „Es bringt Struktur in den Tag – ohne Druck –, bringt Motivation, Anerkennung, Selbstvertrauen und ein bisschen Geld.“ Der Zeitungsverkauf sei ein niedrigschwelliges Beschäftigungsangebot für Menschen in Notlagen, wenn ein anderer Job gerade nicht passe. Pütter ist Realist, kein selbsternannter Weltverbesserer. Der Weg in den ersten Arbeitsmarkt sei schwer, für manche Verkäufer unmöglich, gibt er zu. Es gäbe Erfolgsgeschichten, aber auch Geschichten, die abrupt endeten. Bodo sei vorrangig eine Lebenshilfestellung, „keine Sozialarbeit von oben“.
Das Straßenmagazin Bodo ist eine Idee des gleichnamigen, unabhängigen Vereins, den sieben Privatleute 1994 gründeten. Ein Jahr später, im Februar, erschien die erste Ausgabe. Etwa 50 Verkäufer hat das Magazin gegenwärtig.
Ohne Spenden geht es nicht
Mehrfach stand Bodo vor dem Aus, konnte jedoch durch Spenden aufgefangen werden und braucht sie nach wie vor. „Die Finanzierungslage ist immer dramatisch“, sagt Redaktionsleiter Bastian Pütter. Ziel seien möglichst viele Eigeneinnahmen, öffentliche Mittel bekäme Bodo nicht.
Im Laufe der Zeit seien daher Projekte entwickelt worden, die zusätzliches Geld bringen und gleichzeitig Menschen in Notlagen Arbeit bieten: zwei Trödelläden, ein Bücherbasar und das Projekt Transport – Haushaltauflösungen und Umzugshilfen. Sie seien wichtig, damit das Straßenmagazin Bodo weiterhin erscheinen könne, erklärt Pütter. Die Redaktion liefert auf 40 Seiten Geschichten aus dem sozialen und kulturellen Leben und Veranstaltungstipps – „nur Geschichten, die auf die Tränendrüse drücken, möchte schließlich niemand lesen.“
Bodo gibt Vitte ein gutes Gefühl
Vittes Geschichte geht weiter. „Bodo gebe ich nicht auf. Ich brauche Bodo. Es gibt mir ein gutes Gefühl“, sagt er. Trotzdem: Irgendwann möchte er zurück ins echte Arbeitsleben. „Und bis es so weit ist, stehe ich eben vor dem Kaufhaus.“
Homepage des Straßenmagazins Bodo
Homepage des Internationalen Straßenzeitungsnetzwerks (INSP)
Straßenmagazine in Deutschland
Aktuell gibt es in Deutschland zwischen 35 und 40 Straßenmagazine. „Die meisten schossen in den Jahren 1993 bis 1996 wie Pilze aus dem Boden“, sagt Beatrice Gerst. Sie arbeitet in Stuttgart für das Magazin „Trott-war“, das schwäbische Wort für Bürgersteig. Die ältesten Magazine seien „Bank Extra“ in Köln, „BISS – Bürger in sozialen Schwierigkeiten“ in München und „Hinz&Kunzt“ in Hamburg. Die Gesamtzahl schwanke, da Magazine zwischendurch verschwinden und dann dank neuer Gelder wieder auftauchen.
Die Straßenzeitungen wollen Lobby sein für Menschen, die keine haben, setzen ihre inhaltlichen Schwerpunkte auf Soziales. Menschen in schwierigen Lebenslagen verkaufen die Zeitungen, behalten einen Teil des Verkaufspreises. „Sie übernehmen Verantwortung für sich selbst und strukturieren ihren Tag“, formuliert Gerst die Ziele der Straßenzeitungen. „Unsere Verkäufer berichten, dass sie von den Menschen wahrgenommen werden, sich respektiert fühlen. Es fällt auf, wenn ein Verkäufer nicht an seinem Platz steht, er wird vermisst“, sagt Gerst. Das gestärkte Selbstwertgefühl sei für die Verkäufer oftmals wichtiger als das Geld. Sie wüssten, dass sie durch kluges Betteln vielleicht mehr verdienen könnten.
Hinter den meisten Straßenmagazinen stehen Profis, manche, wie das Freiburger Magazin „FREIeBÜRGER“ werden komplett von den Betroffenen gemacht. Inzwischen werden die Straßenzeitungen in Deutschland nicht mehr unter dem Bundesverband gebündelt. Dieser existierte nur von 2000 bis 2008. Gerst war seine Vorsitzende. Die Zeitungen wurden in das Internationale Straßenzeitungsnetzwerk (International Network of Street Papers – INSP) integriert. Text: Miriam Sahli