Hyperaktiv, unkonzentriert, impulsiv – unabhängig voneinander sind diese Eigenschaften harmlos. Doch in ihrer Kombination können sie ein Indiz für eine Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätsstörung sein. ADHS lässt sich nicht so eindeutig nachweisen wie beispielsweise Windpocken, sondern ähnelt eher Bluthochdruck. Wenn man davon zuviel hat, wird es kritisch. Konstantin* hat ADHS. Seit seiner Kindheit wird er therapiert und nimmt Medikamente. Und Konstantin ist Student – wegen seiner Erkrankung oft eine besondere Herausforderung.

In der Uni müssen sich Studenten mit ADHS vielen Herausforderungen stellen. Lange ruhig zu sitzen und die Aufmerksamkeit gezielt lenken – das fällt besonders schwer. Foto: Kevin Woszczyna
Mit zweihundert anderen Studenten sitzt Konstantin im Hörsaal. In monotoner Stimmlage erklärt der Prof eine komplizierte Gleichung. Keiner scheint wirklich zuzuhören. Es wird viel geredet, manche schauen mit deutlich mehr Interesse auf ihr Handy, andere auf ihren Laptop. Auch Konstantin ist nicht bei der Sache. Sein Blick schweift vom Bild des Beamers über den Professor, dann über die besetzte Reihe vor ihm. Unbemerkt drückt sein Daumen im Sekundentakt auf den Druckknopf seines Kugelschreibers. Sein rechtes Bein wippt unruhig im Takt dazu. Selbst wenn er wollte, könnte er seine Aufmerksamkeit nicht auf das Geschehen vor ihm lenken. Er kann sich nicht konzentrieren. Seine Gedanken schweifen ab.
Das, was Konstantin erlebt, scheint auf den ersten Blick das typische Dilemma eines Durchschnittsstudenten zu sein. Doch bei Konstantin ist es anders. Selbst wenn er es schafft, seine Konzentration für ein paar Sekunden auf die Stimme des Professors zu fokussieren, kommt der Inhalt nicht völlig bei ihm an oder ist nach kurzer Zeit wieder vergessen. Wie durch einen dichten Nebel blickt er auf das Geschehen hinab, unfähig auszumachen, was vor ihm liegt und abgelenkt von den klar erkennbaren Dingen in nächster Nähe. Es ist ein Kampf gegen sich selbst, den er alleine nicht gewinnen kann. Konstantin hat ADHS.
ADHS, die Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätsstörung, ist heute fast jedem ein Begriff. Zu den Kernsymptomen von ADHS im Kindesalter gehören Aufmerksamkeitsstörungen, Hyperaktivität und Impulsivität. Den betroffenen Kindern fällt es schwer, länger ruhig zu sitzen und werden sie dazu gezwungen, führt dies oft zu einer gereizten Stimmung. Aber auch Tagträumereien oder Vergesslichkeit können ein Indiz für eine Aufmerksamkeitsstörung sein.
Oft assoziiert man damit vor allem den typischen Zappelphilipp aus dem Schulunterricht: Er kann weder still sitzen, noch aufpassen und alle nehmen an, dass er da schon noch rauswachsen werde. Heute weiß man allerdings, dass ADHS weder eine reine Kinderkrankheit ist, noch eine „Modediagnose“ – denn bei einer Vielzahl der betroffenen Kinder bestehen die Symptome bis ins Erwachsenenalter fort.

Dr. Bernd Wessel, Facharzt für Innere Medizin, ist ADHS-Experte und behandelt Patienten mit ADHS/ADS seit vielen Jahren. Foto: Louisa Förster
Erwachsene mit ADHS – das gab es per definitionem nicht
„Bis in 1990er Jahre ist man davon ausgegangen, dass ADHS eine Störung von Kindern und Jugendlichen ist. Das heißt, für Erwachsene gab es keine Möglichkeit diese Diagnose gestellt zu bekommen, weil es per definitionem nicht sein konnte.“ Das sagt Dr. Bernd Wessel, Facharzt für Innere Medizin und Chefarzt in der Fachklinik Kamillushaus in Essen, die unter anderem spezialisierte Therapiekonzepte zu ADHS anbietet. „Verhaltensauffälligkeiten, die genau gepasst hätten, mussten dann einer anderen Diagnose zugeschoben werden.“
Mitte der 1990er beweist der Wissenschaftler Paul H. Wender ist seiner Studie erstmals, dass ADHS nicht, wie bisher angenommen, nach der Pubertät ausheilt – es folgt ein Beben in der Branche. Endlich gibt es eine Erklärung für Patienten, die man in eine Diagnose „reingeschoben“ hatte, in die sie nie richtig gepasst hatten. „Uns wurde nicht nur eine Erklärung gegeben, sondern damit auch eine adäquate und gezielte Behandlungsmöglichkeit“, erinnert sich Wessel. „Das war manchmal wie eine Offenbarung. Auch die Patienten, die oft viele verschiedene Behandlungen hinter sich hatten, erfuhren jetzt eine gezielte Behandlung. Das war ein Erfolgserlebnis.“
Als Zappelphilipp abgestempelt
Konstantin bekam bereits im Kindesalter die Diagnose „ADHS“, nachdem er lange Zeit negativ im Schulunterricht aufgefallen war und mit zahlreichen Lehrern aneckte. „Zum ersten Mal in Behandlung war ich in der 4. Klasse. Verhaltensauffälligkeiten habe ich aber schon länger gezeigt. Allerdings wurde ich einfach als Zappelphilipp abgestempelt. Auf die Idee, dass ich ADHS haben könnte, ist man erst später gekommen.“ Verstanden hat er seine Diagnose damals nicht – er war noch zu jung, um zu verstehen, was genau es bedeutet, ADHS zu haben.

Bereits 1845 porträtiert der Frankfurter Arzt Heinrich Hoffmann in seinem Kinderbuch „Der Struwwelpeter“ (1845) den typischen Zappelphilipp – als ungezogener Bengel mit schlechten Manieren, der das Essen vom Tisch reißt. Foto: Infinite Ache/ flickr.de
Seit der 7. Klasse wurde Konstantin fast durchgehend medikamentös behandelt. „Dadurch hat sich schon einiges geändert. Mein Vater wurde nicht mehr eindringlich zum Elternsprechtag eingeladen, meine Noten wurden deutlich besser und auch ich wurde ruhiger. Nachdem meine Lehrer über die Diagnose informiert wurden, konnten sie mich besser unterstützen und bestärken.“ Sie achteten zum Beispiel vermehrt darauf, dass Konstantin in der ersten Reihe saß. Dass er durch seine Diagnose eine Sonderbehandlung erhalten habe, glaubt er nicht. „Ich hab einfach nur die Hilfestellung bekommen, die ich brauchte.“
Bei einem Drittel der betroffenen Kinder bleibt die Symptomatik bestehen
Heilbar ist ADHS nicht, denn diese Stoffwechselstörung ist eine genetische Veranlagung, die sich nicht ändert. Dennoch kann es sein, so Dr. Wessel, dass die Symptome der neurobiologischen Erkrankung für den Alltag irgendwann keine Relevanz mehr haben und gut kompensiert werden können. „Im Leben lernt man dazu und passt sich an, so könnte die ADHS auf der Symptomebene ausheilen, wenn die Auswirkungen nicht mehr störend auftreten.“
Langzeitstudien, in denen Kinder mit ADHS bis in das Erwachsenenalter untersucht wurden, haben gezeigt, dass die Krankheit auch bei Erwachsenen zu erheblichen Einschränkungen der Alltagsbewältigung und zu Leistungseinbußen führen kann. „Ohne dass man die Zahlen so ganz genau festlegen kann, gibt es eine Drittelregel“, erklärt Dr. Wessel. „Bei einem Drittel heilt die Symptomatik tatsächlich aus, bei einem weiteren Drittel teilweise. Beim letzten Drittel bleibt sie im vollen Umfang bestehen. Das Erscheinungsbild ändert sich natürlich, denn bei einem 7-Jährigen tritt die Störung anders auf, als bei einem 25-Jährigen.“
*Name geändert
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