Von Anna Doernemann
Schon seit Jahrhunderten beschäftigen sich Menschen mit dem Untergang der Welt. Ob im Kontext der eigenen Religion oder der Kultur. Besonders wenn Naturkatastrophen von ungeahntem Ausmaß auftreten, rücken Gedanken über das menschliche Dasein verstärkt in den Fokus des Bewusstseins. So verwundert es nicht, dass auch die Literatur das Thema Weltuntergang immer wieder aufgreift. Zusammen mit dem Dortmunder Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Martin Stingelin ging pflichtlektüre-Autorin Anna Doernemann der Frage nach, wie die Literatur das Thema verarbeitet und warum es so zeitlos scheint.
Sich durch jedes Werk zu wühlen, das je zum Thema „Weltuntergang“ verfasst worden ist, wäre wohl eine schier unmögliche oder zumindest eine langwierige Aufgabe. Eine Typologie – ein kleiner Baukasten dafür, wie die Literatur das Thema aufbereitet – die lässt sich dagegen wesentlich einfacher erstellen. Drei Hauptkategorien nennt Literaturprofessor Martin Stingelin, spricht er von der Einordnung von Weltuntergangsliteratur: Naturkatastrophen, das Ende des Werks gleichgesetzt mit dem Weltuntergang, und der permanente Weltuntergang verursacht durch den Menschen.
Weltuntergang durch Naturkatastrophen
Kein Weltuntergangsszenario scheint so allgegenwärtig und realistisch zu sein wie der Weltuntergang verursacht durch die Natur selbst. Jüngst hat der Tsunami in Japan gezeigt, wie schnell und ungeahnt unsere Existenz von der Natur bedroht werden kann. Ein Thema, das auch der deutsche Schriftsteller Frank Schätzing mit seinen Bestsellerromanen „Der Schwarm“ und „Limit“ aufgegriffen hat. Selbst wenn Stingelin die „literarische Qualität“ der Werke „bezweifelt“, so gesteht er Schätzing doch zu, sich mit einem sehr unmittelbaren und aktuellen Thema auseinandergesetzt zu haben.
Wie gehe ich mit der Natur um? Gehen wir vielleicht alle zu sorglos mit unserer Umwelt um? In dieser ersten Kategorie der Typologie geht es also um den Untergang der Welt oder zumindest um die Vernichtung der Menschheit, ausgelöst durch einen externen Faktor. Schätzing bedient sich eines ganz aktuellen Themas und auch einer ganz aktuellen Angst.
„Der Schwarm“ von Frank Schätzing
Der Thriller erschien im Jahr 2004 und beschäftigt sich mit der Bedrohung der Menschheit durch die Natur. Über die ganze Welt verteilt finden seltsame Naturphänomene statt: Tausende von hochgiftigen Quallen tummeln sich plötzlich vor den Küsten Südamerikas und Australiens, in Kanada sind keine Wale mehr aufzufinden und vor der norwegischen Küste werden noch nie zuvor gesichtete Würmer entdeckt. Einer der Hauptcharaktere des Werks, der Biologe Sigur Johanson, versucht, den mysteriösen Vorkommnissen auf den Grund zu gehen. Dabei macht er eine Entdeckung, die von ungeahntem Ausmaß sein könnte: Eine neue Lebensform richtet die Tiere des Meeres gegen die Menschheit.
Schätzing setzt sich in seinem Roman zum einen mit der Frage auseinander, welche Rolle der Mensch als Schöpfer spielt, aber auch, welche Rolle er einnimmt, wenn seine Existenz durch die Natur selbst bedroht wird. Auf 1000 Seiten zeichnet Schätzing globale Katastrophenszenarien, wie Tsunamis, die in der Zukunft nicht nur sehr wahrscheinlich sein könnten, sondern teilweise auch schon statt gefunden haben.
Gebundene Ausgabe: 1000 Seiten
Verlag: Kiepenheuer & Witsch; 1. Auflage (17. Februar 2004)
ISBN-10: 3462033743
ISBN-13: 978-3462033748
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Das Ende des Werks
Zur Beschreibung der zweiten Kategorie der Typologie erläutert Martin Stingelin, „dass es für den Verfasser selbst eine Katastrophe ist, sein eigenes Werk zu einem Ende kommen lassen zu müssen“. Hier geht es also vielmehr um das Selbstverständnis des Schriftstellers. Deswegen ließen viele Autoren auch das Ende ihres Buches mit dem Ende der Welt zusammen fallen. So beispielsweise Friedrich Dürrenmatt in seinem Werk „Durcheinandertal“. Darin geht es um die Abgründe der menschlichen Existenz und den Tod aller Figuren im Buch, nicht der gesamten Menschheit.
Der Schweizer Autor Friedrich Dürrenmatt brachte seinen Roman „Durcheinandertal“ im Jahr 1989 heraus. Den Inhalt des Werkes zusammen zu fassen, fällt nicht leicht, denn wie der Titel schon sagt, sind auch die Handlungsstränge des Buches ein wahres Durcheinander.
Die Themen, die Dürrenmatt aufwirft, sind grotesk und bizarr. Moses Melker – Hauptcharakter des Werkes – hat eine ganz eigene Theologie entwickelt, die „Theologie der Armut“. Nach dieser sei Reichtum nur Ballast. Melker, selbst steinreich, möchte nun die Reichen von ihrer „Geldlast“ befreien, damit auch ihnen Gottes Gnaden zuteil wird. Dafür soll das Kurhaus, das im Schweizer Durcheinandertal liegt, als Anlaufstelle dienen. Es soll Millionäre von ihrem Reichtum „kurieren“. Die Bewohner des Dorfes halten nichts von dieser neuen Idee, beeinträchtigt sie doch ihren gewohnten Lebensrhythmus.
„Durcheinandertal“ von Friedrich Dürrenmatt
In seinem Werk erschafft Dürrenmatt eine Welt, die von Undurchschaubarkeit, Unberechenbarkeit und Unbestimmtheit gekennzeichnet ist. Keiner kann dem jeweils anderen vertrauen. So übt Dürrenmatt auf ironische und unkonventionelle Weise Kritik an der Gesellschaft selbst. Darum ist es auch nicht verwunderlich, dass er die Auslöschung der Bewohner des Tals mit dem Ende seines Werkes zusammenfallen lässt – der Höhepunkt der Geschichte ist gleichsam auch der Schluss des Werkes.
Durcheinandertal. Roman. Diogenes, Zürich 1989, ISBN 3-257-01820-7 (Hardcover)
Durcheinandertal. Roman. Diogenes, Zürich 1991, ISBN 3-257-22438-9 (Taschenbuch)
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Der permanente Weltuntergang

Professor Stingelin weiß von vielen düsteren Untergangsszenarien in der Literatur. Foto: Anna Dörnemann
Was sich in Dürrenmatts Werk schon andeutet, nämlich die Beschäftigung mit den Abgründen des menschlichen Daseins, leitet auch gleich zur dritten Kategorie von Martin Stingelins Typologie über: Der eigentliche Weltuntergang ist der permanente Weltuntergang. Hiermit spielt der Literaturprofessor auf Karl Kraus an.
Kraus, österreichischer Schriftsteller, Publizist und Satiriker des 20. Jahrhunderts, polarisierte stets. Er übte ständig Kritik an der Presse und der Gesellschaft selbst. Für Kraus ist der eigentliche Weltuntergang ein Zustand, der auch so bleibt. Also ein allgegenwärtiger Prozess; zumindest so lange wir Menschen leben und unsere Welt selber zerstören.
„Weltuntergangsliteratur und auch die Aussage Kraus’ sind allesamt letzte verzweifelte Versuche, unsere Gesellschaft wachzurütteln. Denn es ist letztlich das vornehmste Recht der Literatur, den Weltuntergang vorwegzunehmen, um ihn zu verhindern“, bewertet Stingelin Kraus kritische Haltung. In der Literatur ist dieser Idealismus wohl verbreitet. Literaturprofessor Martin Stingelin führt als weiteres Beispiel dafür ein Gedicht an, das ein deutscher Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, Jakob van Hoddis, 1911 verfasste. Er nannte sein Werk „Weltende“.
Weltende – von Jakob van Hoddis
Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.
Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.
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Da die Bürger ihr Ende, die Zeichen, nicht kommen sehen, weist van Hoddis die Bürger in seinem Gedicht auf ihre Fehler hin. Sie sind ihrer Umgebung gegenüber blind: „Die Einzigen, die nicht merken, dass die Welt untergeht, sind die im Gedicht verspotteten Bürger“, interpretiert Stingelin das Gedicht „Weltende“. Außerdem merkt er an, dass die Bürger in dem Grad, wie sie die apokalyptischen Boten und Vorzeichen nur medial vermittelt bekämen („liest man“ Vers 4), vom Weltende im doppelten Wortsinn – emotional und faktisch – nicht „betroffen“ seien. Schließlich geht es hier nur um das bekannte Hörensagen, nicht aber um einen eigenen Erfahrungswert. Diese perspektivische Brechung sei nach dem Literaturprofessor im TV-Zeitalter aktuell geblieben.
Interesse am Weltuntergang wird nie versiegen
Das Thema „Weltuntergang“ ist allgegenwärtig und immer relevant, da wir permanent mit Weltuntergangsthemen konfrontiert werden: sei es durch Naturkatastrophen, drohende Kriege oder neue Technologien. Außerdem geht Stingelin davon aus, dass sich niemand der eigenen Katastrophe des Untergangs entziehen kann. Erst wenn die Erde, nach der biblischen Vorstellung, zum Paradies würde, könne nicht mehr vom Weltuntergang gesprochen werden. Doch da diese Vorstellung für viele utopisch bleibt, wird die Literatur wohl auch noch in der Zukunft genügend Material für Weltuntergangsthemen haben.