Auf den Mund gefallen

Mehr als 4 Millionen Zuschauer sitzen laut des Internetmagazins dwdl.de donnerstags vor dem Fernseher und schauen ProSieben.  Die Blindauditions von der Castingshow „The Voice of Germany“ weisen von Woche zu Woche bessere Quoten auf. Doch selbst singen kommt für TU-Studenten nicht in Frage, zumindest nicht vor Publikum.

Ihnen ist singen peinlich. An der TU Dortmund haben 25 von 30 Studenten ein spontanes Ständchen verweigert. Viele fingen an zu lachen, wurden rot und schauten zu Boden. Bei den Blindauditions wären sie damit durchgefallen. Trotzdem sind die Castingshows wie „The Voice of Germany“ beliebt. Gern lauschen die Zuschauer gefühlvollen Stimmen. Denn singen klingt gut und macht Freude. „Trotzdem ist es in Deutschland schwierig, Menschen zu finden, mit denen man einfach mal drauf los singen kann“, meint Musikpädagogin Caroline Jahns. Sie selbst stammt aus Belgien. Dort wird noch gesungen. Gemeinsam und ohne Druck, perfekt zu klingen. 

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Große Gesangsauftritte haben nur wenige. Beim Singen unter der Dusche ist der Notenständer fehl am Platz. Foto: flickr.com/Ros67

„Viele haben in Deutschland ein Problem damit, laut zu singen, weil sie es einfach nicht gewohnt sind“, erklärt Jahns. Regelmäßig die Stimmbänder klingen zu lassen – das machen die wenigsten. „Menschen hören den eigenen Klang der Stimme anders als bei Stars. Sie bauen sich dadurch Druck auf und brechen sofort ab, wenn es anders klingt.“ Die menschliche Stimme sei eng verknüpft mit unserer Psyche. Bei Aufregung bilde sich ein Kloß im Hals. Das Ergebnis: Die Stimmbänder sind belegt. Es kann erst recht kein gerader Ton rauskommen. „In Deutschland ist Singen zur Perfektion geworden“, muss Jahns mit Bedauern feststellen. Grund dafür sind vor allem technische Möglichkeiten, Töne zu bearbeiten aber auch der Erfolgsdruck durch Castingshows.

Menschen wollen singen

„In vielen Studien heißt es: 80 Prozent der Deutschen wollen nicht singen“, sagt Jahns. Das stimme so aber nicht. Denn die Bereitschaft ist da. An der TU Dortmund zum Beispiel sagen die Studenten, sie würden regelmäßig singen. Unter der Dusche, im Auto oder auch mal am Abend vor dem PC. Allerdings alleine, vor Menschen singen nur die wenigsten.

„Ich kann nicht singen“, „Mir wurde gesagt, dass ich lieber nicht singen sollte“ oder „Ich mag meine Stimme nicht“, sind beliebte Ausreden. Dürfen wir jetzt nur noch singen, wenn wir glauben, dass wir es können? Und wenn ja, was heißt überhaupt „singen können“? Jahns meint: „Es ist nicht wichtig, wie die Stimme für andere klingt, sondern, dass man überhaupt singt.“ Weil es ein Gefühl von Freiheit und Leichtigkeit auslöse.Den TU-Studenten ist der eigene Gesang aber peinlich. Jahns weiß aber, dass viele Leute gerne unbeschwerter singen wollen. Sie habe viele Schüler, die bei ihr Motivation suchen. 

Caroline Jahns ist Konzertsängerin und Gesangspädagogin Fron	tal

Gesangspädagogin Caroline Jahns weiß, warum die Deutschen gehemmt sind. Foto: privat

Deutsches Liedgut wurde missbraucht

Für das allgemeine Peinlichkeitsgefühl gibt es einen Grund. Vor 200 Jahren trafen sich Jung und Alt zum gemeinsamen Singen mit oder ohne Gitarre. Heute traut sich niemand mehr den Mund auf zu machen. Denn: „Deutsches Liedgut wurde missbraucht“, sagt Jahns. Zu NS-Zeiten habe man gemeinschaftliches Singen als Manilpulation benutzt. Der Sozialwissenschaftler und Musikkritiker Theodor Adorno beschrieb die damalige Praxis als brutale Art, andere auszugrenzen. „Daraufhin wurde Singen von den Lehrplänen in Schulen gestrichen, weil sich niemand mit der Vergangenheit identifizieren wollte“, erklärt Jahns. Die deutschen Volkslieder wollte keiner mehr singen. Seitdem gibt es kaum mehr deutsches Liedgut. Es liegt also am politischgeschichtlichen Hintergrund, dass Deutsche im Vergleich zu anderen Kulturen im Bezug auf lautes, hemmungsloses Singen verklemmter sind.

Die Tendenz steigt

Doch Jahns beobachtet wieder eine steigende Tendenz in der Singbereitschaft. Auch an der TU gab es einige Studenten, die sich getraut haben, sogar in der „Food Fakultät“ ihre Stimmen zu erheben und zu singen. Auch Castingshows haben hier ihren Teil dazu beigetragen. Denn durch sie bauen Zuschauer  langsam wieder eine Beziehung zur eigenen Stimme auf. Allerdings benötige der Deutsche immernoch Stützen wie musikalische Begleitung, Musicals oder eine Bühne. Von einfach drauf los singen sind wir noch weit entfernt. Immerhin: Die guten Quoten von „The Voice of Germany“ zeigen, dass wir den Gesang wieder mehr zu schätzen wissen.

1 Comment

  • Den Zugang zur Musik im allgemeinen und zum Singen im besonderen habe ich familiär leider nicht bekommen. Doch die Liebe zur Musik habe ich dennoch entwickeln können, wenn auch passiv. Über die klassische 60/70er Jugend, in der ich zunächst opportunistisch an allen modernen Genres (Rock, Pop, Soul, Reggae) teil hatte, fand ich dann später peu a peu zur Klassik (erst instrumental, später auch Oper), Teile von Jazz und Chansons. Ewig gefremdelt habe ich mit dem Chor. Knabenchöre waren das Grauen an Weihnachten, wenn meine Großmutter die Tölzer Jungs Weihnachtslieder singen lies. Heintje tat den Rest des Jahres alles dafür, mich schaudern zu lassen. Aber auch Erwachsenenchöre waren mir entweder zu volkstümlich oder zu pathetisch. Gospel war mir unbekannt und ist eine Chorform, die ich hier in Deutschland vermisse – wobei mich persönlich das religiöse etwas distanzieren lässt, doch da ich heute auch Kirchen- und Chormusik von Bach schätze, kann ich da abstrahieren ;-).

    Ja, und dann kam mein Sohn vor sieben Jahren auf die Welt. Ihm haben wir schon sehr früh mit Musik und Singen (meine Frau) zur Musik verführt. Als er fünf wurde stellte ich ihm mal die Ode an die Freude (Freiheit) vor (Bernsteins Version 1989). Das gefiel im so sehr, dass er es singen wollte. Als er dann noch mit Klavier spielen anfing, durfte er seine eingeübte „Ode an die Freude“ beim ersten Konzert vorstellen.

    Die Freude am Singen hielt an und meine Frau entschied – zu meinen anfänglichen Missbehagen – ihn zum Tölzer Knabenchor zu bringen. Es war ein super Entscheidung und ich hoffe, er hält durch bis zum Chor 1. Ich habe seither einen völlig neuen Zugang zur Chormusik, geniesse die Stabat Mater und kann mich sogar über alpenländische Weihnachtslieder freuen. Aber ich mute das niemand im Bekanntenkreis zu. Denn diesen Zugang muss man sich erwerben.

    Wenn man die Begeisterung der Jungs beim (gemeinsamen) Singen erlebt, bekommt man eine Ahnung davon, was Singen (im Chor) für Glücksgefühle verschafft. Und man versteht weit mehr, was in der Reportage von Anke Engelke beschrieben wurde, die ich für ein Highlight im TV erachte:

    Video „Einfach Glück – Eine Reise mit Anke Engelke“ | Menschen hautnah | ARD Mediathek http://www.ardmediathek.de/tv/Menschen-hautnah/Einfach-Gl%C3%BCck-Eine-Reise-mit-Anke-Enge/WDR-Fernsehen/Video?

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