Warum landen in Deutschland Menschen auf der Straße?

Bild: flickr.com/skohlmann unter Verwendung der CreativeCommons-Lizenz

Deutschland ist ein Sozialstaat. In so gut wie jeder prekären Lebenslage gibt es Hilfsangebote und Möglichkeiten der Unterstützung. Dennoch haben fast eine halbe Millionen Menschen keinen festen Wohnsitz. Oft steht vor der Wohnungslosigkeit eine persönliche Krise – und gescheiterte Kommunikation. 

Nervös fährt sich Mila* mit ihren rot lackierten Nägeln über die Oberschenkel. „Zu Hause, da gab es immer öfter Stress“, sagt sie. Denkpause. Luft holen. „Ich wurde für Sachen verantwortlich gemacht, für die ich nichts konnte“. Ihre Stimme bricht leicht. „Und dann bin ich in etwas reingerutscht, das ich gar nicht verursacht habe, sondern meine Mutter.“ Was genau damals passiert ist, will Mila nicht sagen. Es sei im Grunde auch egal. „Ich wusste schon länger, dass das alles nicht mehr funktioniert. Und dann bin ich weg.“

Weg, das hieß für Mila einfach nur raus. Raus aus der Kleinstadt im Sauerland. Raus aus dem Job bei der städtischen Behörde. Raus aus ihrem Alltag, der sie so sehr belastete. Nur eins gab es nicht: ein Ziel. Seit sie weg ist, hat Mila kein Zuhause mehr. Seit fünf Monaten ist sie wohnungslos – und das mit 21.

Der Unterschied zwischen Wohnungs- und Obdachlosigkeit
Als wohnungslos bezeichnet man Menschen, die keinen dauerhaften Zugang zu mietvertraglich abgesichertem Raum haben. Jemand, der als wohnungslos gilt, schläft deswegen aber nicht gleich draußen: Wohnungslose gelten auch als solche, wenn sie permanent bei Bekannten schlafen oder in Einrichtungen unterkommen, selbst aber keinen gemeldeten Wohnsitz haben. Obdachlosigkeit hingegen impliziert, dass Betroffene dauerhaft auf der Straße leben. 

Das weiß keiner, der es nicht wissen soll. Mila trägt sauberen Pullover, Jeans und moderne Sneaker. In ihre blonden Haare hat sie pinke Strähnen gefärbt. Wenn sie durch die Innenstadt ihrer neuen Heimat Dortmund läuft, dann sieht niemand, dass sie Nacht für Nacht zwischen den Sofas von Freunden pendelt. „Jeden Tag ist es für mich eine neue Frage, wo ich schlafe“, sagt sie. Manchmal weiß sie es auch abends noch nicht. Dann entscheidet sich ganz spontan, wo sie unterkommt. Sie hofft immer auf ein bisschen Glück. Bislang hatte sie das, Platte machen musste sie noch nie. Und ihre Sachen hat sie ohnehin immer „safe“, wie sie sagt. Bei einem guten Bekannten also, „nur ewig können die da auch nicht bleiben.“

Milas Schicksal ist bewegend. Allzu besonders ist es aber nicht. Laut einer Schätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe wird die Zahl der Wohnungslosen in Deutschland bis 2018 auf über eine halbe Millionen Menschen ansteigen.

Statistik: Schätzung zur Anzahl der Wohnungslosen in Deutschland von 1995 bis 2014 und Prognose bis zum Jahr 2018 (in 1.000) | Statista

„Es gibt keinen klassischen Weg in diese Lage“, sagt Jens Elberfeld. Der Sozialarbeiter leitet das Dortmunder Büro der „Off Road Kids“, einer Einrichtung, die vor allem jungen wohnungslosen Menschen wie Mila hilft. „Eine persönliche Krise, die kann man eigentlich bei jedem Menschen, der auf der Straße lebt, irgendwo im Leben finden“, sagt der Streetworker. „Es ist aber weder ein konkretes Problem von jung, noch von alt. Das kann zu jedem Zeitpunkt im Leben eintreten.“

Jedoch beeinflusst der Lebensabschnitt, in dem sich die Betroffenen befinden, wie sich ihr Leben ohne Dach über dem Kopf entwickelt: Während Jugendliche meist aus dem Elternhaus flüchten, haben Erwachsene schon eine Wohnung. „Oft hört man bei erwachsenen Obdachlosen das Argument: ‚Der Staat zahlt doch alles, wenn man will. Die sind doch selbst Schuld’“, weiß Susanne Gerull, Professorin für Soziale Arbeit an der Alice Salom Hochschule in Berlin. „Das ist eine sehr einseitige Sicht auf die Dinge. Der Staat zahlt viel. Aber er erwartet, dass man reagiert. Und dafür wird oft zu wenig getan.“

Das Hilfeangebot kommt per Post

Reagieren, das haben Menschen, die in die Wohnungslosigkeit abzurutschen drohen, oft schon verlernt. Das größte Problem sind bei Erwachsenen ihre Mietschulden. Wenn die so hoch sind, dass der Vermieters eine Räumungsklage veranlasst, kontaktiert das Amtsgericht das Sozialamt. Durch die Behörde können rückständige Mieten grundsätzlich übernommen werden. So hat die Stadt Dortmund im Jahr 2016 beispielsweise etwa 360.000 Euro für nicht getilgte Wohnungsrechnungen bezahlt. Das Hilfeangebot kommt per Brief. Und dann? „Nichts“, sagt Gerull, „der wird meist gar nicht aufgemacht.“ Denn bevor der Postbote die mögliche Unterstützung bringt, wirft er jede Menge Mahnungen von Gerichtsvollziehern und von Banken ein. „Die Briefe gehen bei den Menschen verschütt und damit auch der mögliche Ausweg durch den Staat“, sagt Gerull.

Was dann passiert, ist von Stadt zu Stadt unterschiedlich. Gemeinden wie beispielsweise Karlsruhe betreiben die sogenannte „aufsuchende Arbeit“: Sie besuchen die betroffenen Menschen zu Hause, wenn auf das Schreiben nichts zurückkommt. „Das ist allerdings gesetzlich nicht vorgeschrieben. Sozialämter können das machen, müssen sie aber nicht. Mit einem Brief habe ich genauso meiner Pflicht genügt. Auch wenn das leider oft wenig förderlich ist“, sagt Gerull.

Doch nicht allein das ist ein Problem. Auch Menschen, die sich helfen lassen wollen, würden oftmals nicht mit der nötigen Sorgfalt behandelt. So sind laut Gerull in vielen Städten die Kompetenzen zwischen Jobcenter und Sozialamt nicht einstimmig geklärt. „Bürokratisch haben beide Behörden den Freiraum, sich Aufgaben wie das Bewilligen von bestimmten Geldern aufzuteilen. Aber in der Praxis funktioniert das nicht. Im Tagesgeschäft werden Leute dann oft zwischen den Ämtern hin und her geschickt, bis sie aufgeben.“

Viele haben psychische Krankheiten

Mila hatte ein ähnliches Erlebnis. Bis zu ihrem 18. Lebensjahr bekam sie Jugendhilfe. Dann wurde sie aufgefordert, Sozialhilfe zu beantragen. Die wiederum wurde ihr verwehrt. Mit der Begründung, dass sie noch keine 21 Jahre alt sei.

Sie wusste nicht weiter, nur, dass sie kein Geld hat. Deswegen kam sie zu Elberfeld und den „Off Road Kids“, wo man ihr bei den Anträgen half. „Viele nehmen die Behörden als Gegner wahr“, sagt Elberfeld, „wir erleben hier beides. Gute Zusammenarbeit genauso wie Fälle, in denen die Ämter es den Leuten noch schwerer machen, als es sowieso schon ist.“

Durch den Dschungel an Bürokratie nähmen viele eine grundsätzliche Abwehrhaltung gegenüber Institutionen ein, die helfen könnten und wollen, sagt auch Mila. Auch den Schritt zu Einrichtungen wie den „Off Road Kids“ wagt längst nicht jeder. „Oft haben die Menschen psychische Krankheiten: Panikattacken, Angststörungen oder Depressionen“, sagt sie. „Man fällt in ein Loch, alles erscheint einem total aussichtslos und man weiß gar nicht, wo man überhaupt Unterstützung herbekommt.“

Das Problem mit der Wohnungsnot

Mila will wieder zurück in ein strukturiertes Leben. Zusammen mit Elberfeld sucht sie nach einer eigenen Unterkunft. Doch das ist nicht leicht. Es herrscht Wohnungsnot in den Städten. Auch die Stadt Dortmund gibt die Auskunft, der hiesige Wohnungsmarkt sei „angespannt“. Und den wenigen bezahlbaren Platz, der noch da ist, wollen Vermieter oft nicht Menschen zur Verfügung stellen, bei denen sie Angst haben müssen, dass sie die Miete nicht zahlen können.

Wenn Mila an die Zukunft denkt, dann lächelt sie trotzdem. Nicht verlegen, auch nicht schüchtern. Es ist ein breites, überzeugtes Lächeln. Sie ist jung, sie hat noch alle Möglichkeiten. Daran glaubt sie fest. Die wenige verbliebene Angst, die nimmt ihr Elberfeld mit Sätzen wie „Jeden, der nicht mehr auf der Straße leben will, den bekommen wir da auch raus“. Mila will wirklich nicht mehr. Sie besucht bereits wieder die Berufsschule, sucht einen Ausbildungsplatz als Erzieherin. „Und da muss ich ja auch für lernen. Dafür brauche ich Zeit. Die will ich nicht damit verplempern, zu überlegen, wo ich schlafe.“

*Name von der Redaktion geändert.