Der Kaffee mit dem Pilz

Kaffee

Begeisternde Vorträge, Kaffee trinken und neue Freunde finden. Bei Organo Gold ist das der Arbeitsalltag. Das Multi-Level-Marketing Unternehmen verkauft Kaffee, der einen bestimmten Pilz enthält und deshalb besonders gesund sein soll. Aber was ist Multi-Level-Marketing überhaupt? Und was haben neue Freunde mit gesundem Kaffee zu tun? Yasmeen hat der pflichtlektüre gezeigt, wie das Unternehmen arbeitet und das System funktioniert.

Sie treffen sich im Holiday Inn, einem kleinen Hotel in der Nähe des Flughafens in Málaga, Spanien. Der Weg ist steinig und ruckelig – eine Abkürzung. Das Hotel liegt direkt an der Stadtautobahn, daneben eine heruntergekommene Autovermietung. Yasmeen und Yolanda gehen durch den Speisesaal, in dem noch niemand sitzt: es ist erst 19 Uhr, noch keine Essenszeit in Spanien. In einer Ecke des Raumes steht ein Banner von Organo Gold vor einer kleinen Tür. Hier ist der Versammlungssaal. Lazaro steht schon davor und begrüßt die beiden Frauen. Sie sind früh dran, sonst ist noch niemand da: genug Zeit für Yasmeen, um mit Lazaro über die Salsa-Party letztes Wochenende zu reden. Die beiden hätten sich beim Tanzen kennengelernt, erzählt sie lachend, und sie hätte ihn dann für Organo Gold begeistert.

Yolanda geht schon in den Saal hinein. Sie könnte als Band-Groupie von Organo Gold durchgehen, wenn es eine Band wäre: ein Shirt mit dem Organo Gold Symbol aus Strasssteinen, ein Anstecker von ihnen und ein Kugelschreiber. Aber Organo Gold ist keine Band, sondern ein Multi-Level-Marketing-Unternehmen. Und die Begeisterung für das Unternehmen ist das Geschäftsmodell.

Was ist Multi-Level-Marketing überhaupt?

Beim Multi-Level-Marketing gibt es keine Geschäfte: die Verkäufer sind einzelne Personen. Ihre Produkte kaufen sie bei der Zentrale des Unternehmens ein. Bei Organo Gold sind das Kaffee, Tee und Schokolade. Dann verkaufen sie die Produkte in ihrem eigenen Netzwerk zu einem zentral vorgegebenen Preis weiter. Die Differenz zwischen Einkaufspreis bei der Zentrale und dem Verkaufspreis behalten die Verkäufer als Gewinn. Bei Organo Gold sind das meistens acht bis zehn Euro.

Überzeugt ein Verkäufer dann noch andere,  ebenfalls als Verkäufer einzusteigen, verdient er anteilig an dessen Gewinn und dem aus dessen Netzwerk mit.

Der Gedanke hinter Multi-Level-Marketing-Unternehmen ist, Zwischenhändler zu vermeiden und stattdessen so direkt wie möglich beim Produzenten einzukaufen. Dadurch entsteht bei demselben Preis, wie ihn ein Einzelhändler für ein vergleichbares Produkt verlangen würde, eine relativ große Spanne zwischen den Produktionskosten und dem Einkaufspreis, den die Verkäufer an das Unternehmen zahlen, wenn sie neue Ware kaufen. Das Geld, das es durch diese Spanne einnimmt, verteilt das Unternehmen dann als Provision auf Verkäufer, die neue Verkäufer werben, die dann auch in das Geschäft einsteigen.

Ist das nicht dasselbe wie ein Pyramidensystem?
Die Abgrenzung von Multi-Level-Marketing-Unternehmen und Pyramidensystemen ist oft schwierig, aber sehr wichtig, denn Pyramidensysteme sind in fast allen Ländern illegal. Während im Multi-Level-Marketing das Produkt und dessen Verkauf an Konsumenten im Vordergrund steht, geht es in Pyramidensystemen nur darum neue Vertriebspartner anzuwerben, die das Produkt auch weiterverkaufen. Dabei gibt es entweder nur ein digitales Produkt mit sehr geringen Produktionskosten oder das Produkt ist so überteuert, dass ein normaler Konsument es nicht kaufen würde, wenn er nicht die Aussicht auf Provisionen hätte. Das Produkt wird also immer weiter verkauft und verteuert sich auf jeder Ebene, ohne dass es einen Konsum gibt. So verdienen die höheren Ebenen an jedem Produkt, das auf einer unteren Ebene verkauft wird, weil es von der obersten Ebene bis nach unten verkauft wird.

 


Der Raum ist winzig, trotzdem passen zwanzig Stühle hinein. Vorne eine ausgerollte Leinwand, an der Seite Tassen, eine Kaffeemaschine, ein Wasserkocher und verschiedenes Gebäck. Nur sind Kaffee, Tee und Gebäck hier kein nettes Beiwerk zum Smalltalk, sondern das, worum es hier eigentlich geht.

Produkte von Organ Gold

Die Produkte von Organo Gold: Kaffee, Tee, Schokolade und Kapseln.   Fotos: Leonie Gürtler

Eigentlich passt Kaffee zu allem

Denn Organo Gold produziert und verkauft Kaffee. Und die, die sich heute im Holiday Inn versammeln, sind „Vertriebspartner“, die den Kaffee verkaufen. Auf der Veranstaltung erklären sie neuen Interessenten, wie ihr Geschäft funktioniert, was Multi-Level-Marketing ist und was den Kaffee, den sie verkaufen, besonders macht. Es gibt bei der Veranstaltung keinen richtigen Chef, jedes Mal hält jemand anderes den Vortrag und erzählt seine Geschichte.

Inzwischen sind noch andere Vertriebspartner gekommen. Juan-Carlos hat einen großen Koffer dabei. Darin befinden sich alle Produkte, die Organo Gold anbietet: verschiedene Arten von Kaffee, Tee, Schokolade und Ganoderma-Extrakt-Pillen. Der Ganoderma-Pilz ist in allen Produkten von Organo Gold enthalten. Er soll alle möglichen positiven Effekte auf die Gesundheit haben.

Einige unbekannte Gesichter kommen nun dazu. Marisa, eine von ihnen, schaut noch etwas schüchtern. Sie ist Italienerin, für einen Marketing-Kurs in Málaga und sogar schon als Vertriebspartnerin angemeldet. Aber was das alles genau ist und wie es funktioniert, weiß sie noch nicht. Dafür trinkt sie den Kaffee jetzt schon seit zwei Wochen. Sie hat außerdem gleich noch zwei „Neue“ mitgebracht, die mit ihr zusammen den Marketing-Kurs belegen. Sofort werden alle drei mit Fragen überhäuft. Besonders interessant ist, welchen Job sie haben, denn davon hängt oft der Erfolg ab:

 

Organo Gold ist nämlich eher als ein Nebenverdienst gedacht, vor allem zu Beginn. Als Nebenverdienst, mit dem man genug Geld verdient, um sich irgendwann seinen eigentlichen Traum erfüllen zu können. Am besten ist es aber, wenn man Job und Organo Gold verbinden kann. Und schließlich lässt sich eigentlich alles mit Kaffee verbinden. Miguel, den Marisa auch mitgebracht hat, bietet Golf-Kurse für Frauen an, da passe Kaffee auf jeden Fall dazu, versucht Yasmeen ihn zu überzeugen. Er ist sich noch nicht ganz sicher. Erst einmal schauen, was genau das ist.

Vom Kaffee zur Erlebnisberaterin

Auch Yasmeen kann Job und Kaffee gut kombinieren. Sie ist Erlebnisberaterin bei einem Hotel in Marbella, bei Málaga. Allerdings verlief ihr Werdegang auch andersherum als bei den meisten. Sie hat zuerst Organo Gold gemacht und dadurch ihren Job bekommen. Auch wenn sie jetzt eine Festanstellung hat, wird sie ihr Geschäft, wie sie Organo Gold nennt, nicht so schnell aufgeben.

Yasmeen in Aktion

Yasmeen bei der Veranstaltung, als sie ihre Geschichte erzählt.

Sie hat mit 17 Jahren damit angefangen, jetzt ist sie 20 und damit immer noch eine der jüngsten Verkäuferinnen. Ihre Mutter, die eigentlich Stewardess ist, machte das Geschäft nebenbei und bat Yasmeen mitzumachen, weil sie ihr Netzwerk zeitlich nicht mehr alleine betreuen konnte. Zuerst war Yasmeen skeptisch, aber sie arbeitete sich schnell ein und hatte schon bald ihr eigenes Netzwerk aufgebaut. Damals war sie noch in der Schule und machte gerade ihr Abitur. Eigentlich wollte sie Pilotin werden, bestand aber die Prüfung nicht. So wurde ihr bewusst, dass ihr Geschäft eigentlich der perfekte Job für sie ist. Ende März diesen Jahres passierte dann das für sie unglaubliche: Sie bekam ein Jobangebot. Einen richtigen Job, mit festem Gehalt und festen Arbeitszeiten. Und das alles, weil sie ihren Kaffee in einem Hotel anbieten wollte. Als sie mit dem Geschäftsführer des Hotels zu Mittag aß und ihm den Kaffee vorstellte, kamen sie ins Gespräch und sprachen auch über Veganismus, denn Yasmeen ist Veganerin, und am Ende machte er ihr gleich das Jobangebot:

 

Ihre Geschichte wird Yasmeen auch später nochmal auf der Veranstaltung erzählen. Noch inspirierender, noch begeisterter, auf Spanisch. Aber zuerst erzählen noch einige andere. Octavio beginnt: himmelblaues Hemd, petrolfarbene Skinny Jeans, glänzende Glatze. Modisch traut er sich was, reden kann er auch. Kein Wunder, alle Vertriebspartner bekommen Weiterbildungen – hauptsächlich online – und werden im Reden geschult. Hier stottert keiner, stockt keiner, verhaspelt sich keiner und jeder kann spontan einen kleinen Roman erzählen. Kommt wahrscheinlich auch daher, dass sie genau wissen, was sie erzählen. Es ist immer dasselbe.

„Du versuchst den Fehler zu finden, oder?“

Octavio hat englische Philologie studiert, aber das erfüllte ihn nicht. Jetzt erzählt er der kleinen Gruppe, wie gut der Ganoderma-Pilz für die Gesundheit ist. Damit das nicht langweilig wird, macht er es interaktiv: „Ihr glaubt mir nicht, was Ganoderma alles bewirkt? Habt ihr Internet auf euren Handys? Dann googlet bitte mal, wogegen Ganoderma alles hilft. Ich bin kein Mediziner, ich kann euch das nicht sagen. Aber das, was ihr im Internet findet, das sagen die Mediziner.“ Dann dreht er sich zum Flipchart um und wartet, bis ihm einige Begriffe zugerufen werden, die er aufschreiben kann. Kopfschmerzen, hoher Blutdruck, Cholesterin – das Blatt füllt sich mit Begriffen. „Jeder von euch kennt jemanden, der oft Kopfschmerzen hat, oder? Oder einen zu hohen Cholesterinspiegel? Und viele dieser Leute trinken regelmäßig Kaffee, richtig?“, fragt Octavio weiter. Alles natürlich nur rhetorische Fragen, das Publikum nickt bejahend. Und schon ist scheinbar bewiesen, warum Organo Gold einfach der perfekte Kaffee sein und das Geschäft funktionieren muss.

Das Produkt ist nun also klar: gesunder Kaffee. Jetzt geht es um die Arbeit und das Geld. Octavio übergibt an David. Davids Anzug ist drei Nummern zu groß, er ist dünn, groß und hat immer ein schüchternes, geheimnisvolles Lächeln auf den Lippen. „Weiß jeder von euch, was Multi-Level-Marketing überhaupt ist?“, fragt er. Stille im Saal, einige nicken, einige schütteln den Kopf. Die, die schon Vertriebspartner sind, schauen ich interessiert um, wer von den Neuen schon etwas darüber weiß. David erklärt mit einer kleinen Grafik am Flipchart wie der traditionelle Einzelhandel funktioniert: „Ein Produkt, dass in der Produktion zehn Euro kostet, geht über mehrere Zwischenhändler, sodass es am Schluss für 80 Euro an den Endkonsumenten verkauft wird. Organo Gold löscht diese Zwischenhändler aus und kauft direkt beim Produzenten.“ Das war zwar keine Erklärung von Multi-Level-Marketing, aber im Vergleich zum traditionellen Einzelhandel klingt es gut. Dass der Kaffe von Organo Gold trotz Direktkauf beim Produzenten pro Packung 30 Euro kostet, liegt dann wohl an der hohen Qualität und dem Konzept der Entlohnung.

David öffnet eine Folie mit einigen Zahlen, Prozenten und Bronze-, Silber- und Goldmedaillen. Er erklärt nicht alles: „Was Diamant und Rubin konkret bedeuten, müsst ihr noch nicht wissen. So einen Status könnt ihr erst erreichen, wenn euer Netzwerk sehr groß ist und ihr viel verkauft. Ich erkläre euch erst einmal nur Bronze, Silber und Gold.“

Die Neuen im Publikum scheinen etwas erschlagen von dem großen System, das auf sie zukommt. David möchte jetzt wissen, was er für eine Wirkung erzielt hat. „Ihr habt ja gesehen, ihr könnt entweder nur den Kaffee trinken oder ihn weiterverkaufen. Wo seht ihr euch eher? Als Konsument oder als Verkäufer?“, fragt er ins Publikum. Die Reaktionen sind verschieden, aber ein Problem haben die meisten Neuen: Der Kaffee schmeckt ihnen nicht. Yasmeen beruhigt sie, sie hätten ihn nur falsch zubereitet, eigentlich schmecke er ganz gut. Na wenn das so ist.

Die Hand

Die Grafik, die Francisco überzeugt hat, Multi-Level-Marketing zu machen.

Überzeugt von einer kleinen Grafik

Es gibt eine kurze Pause zum Kaffeetrinken, in der Francisco einigen der Interessenten erklärt, was ihn überzeugt hat, zu Organo Gold zu kommen. Einige der Verkäufer machen regelmäßig Workshops über Multi-Level-Marketing an der Uni in Málaga, bei denen sie auch das Unternehmen vorstellen. Damals war nur eine kleine Zeichnung ausschlaggebend. Weil er gerade kein Blatt Papier hat, zeichnet er sie auf seine Hand: vier Kästchen, vier Buchstaben und zwei Zahlen. Das E und das A auf der linken Seite stehen für empleados und autónomos, auf Deutsch Angestellte und Selbständige. D und I auf der rechten Seite bedeuten Dueños und Inversores – Geschäftsinhaber und Investoren, die so viel Geld haben, dass sie nicht mehr arbeiten müssen, sondern ihr Geld nur noch an der Börse vermehren. „Auf der linken Seite sind 95 Prozent aller Menschen, auf der rechten fünf Prozent“, erklärt er und schreibt die beiden Zahlen dazu. „Von der linken auf die rechte Seite zu kommen ist sehr schwierig, es dauert sehr lange und es schaffen nur wenige. Aber beim Multi-Level-Marketing bist du dein eigener Chef und hast dein eigenes Geschäft, bist also ein Dueño und kannst, wenn du damit viel verdienst, auch schnell Investor werden“, meint Francisco. Seit kurz nach der Veranstaltung ist der blasse, unscheinbare Junge auch ein Verkäufer bei Organo Gold. Jetzt versucht er andere mit der Grafik auf seiner Hand zu überzeugen.

Nach der Pause ruft David Yasmeen auf die Bühne und bittet sie, ihre Organo Gold Geschichte zu erzählen. Zum bestimmt tausendsten Mal erzählt sie sie – begeistert, als sei es das erste Mal – und erklärt, welche vier Fragen man stellen muss, um jeden von dem Geschäft zu überzeugen:

 

Nach den Vorträgen gibt es noch das obligatorische Foto von der ganzen Gruppe zusammen, auf dem alle den Zeigefinger heben.

Die ganze Gruppe mit erhobenem Zeigefinger. Foto: Leonie Gürtler

Die ganze Gruppe mit erhobenem Zeigefinger, der das Ziel von Organo Gold symbolisiert: Ein Prozent des Weltmarktes für Kaffee.

Es sieht irgendwie ermahnend aus. Die Neuen verstehen nicht ganz, was die Geste sein soll und fragen nach. Yasmeen erklärt lachend: „Das soll nicht bedeuten, dass wir die Nummer eins auf der ganzen Welt sein wollen. Es symbolisiert unser Ziel: mindestens ein Prozent des Weltmarktes für Kaffee erobern. Das klingt wenig, aber der Weltmarkt ist groß. Wir haben noch viel zu tun!“

Beitragsbild: Leonie Gürtler

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