Univercity: Kostenloses Wohnen für ein Semester

Jung, intellektuell und vielseitig – Bochum will mit dem Projekt Univercity zeigen, dass es mehr zu bieten hat als sein Image vorgibt. Ob die Stadt hält, was sie verspricht, haben jetzt drei Studenten getestet. Ein halbes Jahr lang durften sie kostenlos wohnen und kulturelle Angebote wahrnehmen. In dieser Woche endet das Projekt. Ein Besuch in der Univercity-WG Bochum.

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Lukas Boltner (22), Miriam Koschowski (23) und Jan Philip Wildschütz (24) haben ein Semester lang in der Univercity-WG Bochum gelebt.
Fotos: Julia Bernewasser

Neben Nähmaschine, Garn und Schere beugt sich Lukas über ein rotes Stück Stoff. „Guck mal, was ich schon gemacht habe“, sagt er und winkt Mitbewohnerin Miriam zu sich heran. Aus der roten Seide soll einmal Miriams Kleid für den Hochschulball entstehen . Ein Einzelstück, das Lukas extra für sie anfertigen will. In seinem Zimmer herrscht ein kreatives Chaos. Seine Nähmaschine hat er auf Spanplatten abgestellt. Darunter befindet sich der Tischkicker. Auf dem Boden liegt eine Gitarre, an der Wand hängt eines seiner vielen Bilder in kräftigen Blau- und Rottönen. „Lukas ist hier unser Kreativkopf“, sagt Phil, der  lässig im Türrahmen steht. „Und die Miri ist ein Workaholic.“ Sich selbst zu beschreiben fällt ihm deutlich schwerer.„Phil ist der Entspannte, der Chillige“, springt Lukas ein. Ein Lachen geht durch die Runde. Über Lukas Kunstwerk hängen zwei Masken- auch eine Eigenkreation und eine Erinnerung an eine Party, die jetzt schon einige Monate zurückliegt: Die WG-Einweihungsfeier. „Ich wollte damals unbedingt eine Mottoparty“, erinnert sich Miriam. „Und ich habe das kleinste Übel genommen. So eine Maske konnte ich mir ja auch noch aufsetzen“, sagt Phil schmunzelnd. 

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Lukas hat eine Schneiderausbildung gemacht. Jetzt studiert er an der RUB

Vor fünf Monaten hätte wohl keiner der Drei gedacht, dass sie sich nicht nur Küche und Bad teilen werden, sondern auch zu echten Freunden werden. Ende September waren Miriam Koschowski, Lukas Boltner und Jan Philip Wildschütz Drei ganz verschiedene und sich völlig unbekannte Typen, die nur Eines verband: Sie alle hatten einen Studienplatz in Bochum sicher.

Miriam hatte bereits ihren Bachelor in „Soziologie, Linguistik und Wirtschaftswissenschaften“ in Bielefeld gemacht. Jetzt sollte es für den Master in „Sozialwissenschaft“ ins Ruhrgebiet gehen. Lukas schrieb sich an der RUB für die Studiengänge „Kultur, Individuum und Gesellschaft“ sowie „Theaterwissenschaften“ ein. Zuvor hatte er ein FSJ am Theater in Karlsruhe und eine Schneiderausbildung gemacht. Jan Philip (wird am liebsten Phil genannt) hatte eine Ausbildung zum Industriekaufmann hinter sich. Zum Wintersemester wollte er an der Hochschule Bochum „International Business and Management“ studieren.

Wie Tausend andere Studenten auch machten sie sich auf Wohnungssuche. „Ich wollte damals auf keinen Fall wieder zu meinen Eltern ziehen“, erzählt Lukas, der in Castrop und Herne aufgewachsen ist. „.Sich überall vorzustellen, war schon ziemlich anstrengend“, erinnert sich Phil. Sie blieben erfolglos. Im Internet stießen sie dann auf die Univercity-WG.  Das Angebot: Kostenloses Wohnen,  freie Eintritte zu verschiedenen Veranstaltungen, der Besuch anderer Bochumer Hochschulen sowie einiger Unternehmen wie der Brauerei Fiege. Eine kostenlose Mitgliedschaft im Exzenterhaus Businessclub sollte den Studenten die Tür zur Berufswelt öffnen. Im Gegenzug sollten sie ihre Erlebnisse in Bochum auf Facebook teilen. „Andere Studenten sollen mit Univercity Gesichter verbinden. Sie sollten als Botschafter für unser Projekt fungieren und so Aufmerksamkeit schaffen“, erklärt Johanna Hüttner, Leiterin des Projektbüros Univercity.                                                                      

Und wer könnte das besser als Studenten? Nach dem Ende von Opel und Nokia hat sich Bochum längst von einer Arbeiterstadt zu einem Wissenschaftsstandort entwickelt. 53000 Studenten zählen die Bochumer Hochschulen. „Viele studieren in Bochum, aber kennen die Stadt überhaupt nicht oder pendeln täglich. Wir wollen einen Anreiz schaffen hier vor Ort zu wohnen und auch nach dem Studium zu bleiben. Wir wollen zeigen, dass das Ruhrgebiet viel Kultur besitzt und Freizeitmöglichkeiten bietet“, betont Johanna Hüttner, die die Studenten liebevoll als ihre „WG-Mutti“ bezeichnen. 

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Johanna Hüttner (Leiterin des Projektbüros Univercity)

Wer an dem WG-Experiment interessiert war, musste sich mit einem Video bewerben. „Ich habe mir total viele Gedanken gemacht und hatte dann nachher ein drei Minuten Konzept. Das musste ich dann wieder auf 20 Sekunden herunter brechen“, erzählt Lukas. Johanna Hüttner glaubt mit den Dreien die richtigen Botschafter für ihr Projekt gefunden zu haben. „Wir haben sie ausgewählt, weil sie die größte Kreativität und Begeisterungsfähigkeit mitbrachten und sehr unterschiedliche Typen sind.“

Doch wussten die Drei überhaupt, worauf sie sich da eingelassen hatten? Was, wenn sie sich überhaupt nicht leiden könnten? „An unserem ersten Abend haben wir uns erstmal in die Küche gesetzt und ein Bier getrunken und uns sofort super verstanden“, erinnert sich Miriam und die Jungs stimmen ihr zu.
Mit Bochum als Stadt konnten dir Drei bis dahin wenig anfangen. Phil war skeptisch. „Natürlich hatte ich viele Klischees im Kopf. Hässliche Stadt, hässliche Uni – sowas hatte ich schon gehört.“

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Phil ist der sportliche Typ. Er reist gerne. Je nach Wetter immer mit dabei: Sein Surfbrett oder Snowboard.

Gleich im Oktober startete ihre Entdeckungstour durch Bochum. Wenn Lukas heute auf den Terminkalender an der Wand schaut, schüttelt er ungläubig den Kopf. „Wir hatten im ersten Monat fast jeden Tag eine Veranstaltung. Das war richtig stressig“, findet der 22-Jährige rückblickend. „Wir wollten so viel wie möglich mitnehmen und konnten einfach nicht ablehnen“, erzählt Miriam. Für die Drei ging es in das Musical Starlight-Express, zum Konzert von Jupiter Jones, es gab freien Eintritt für die Urbanatix und für zahlreiche Museen.

Wenn Miriam von ihrem Besuch bei einem Spiel des VFL Bochum spricht, strahlt sie über das ganze Gesicht. „Wir durften uns sogar einmal auf die Trainerbank setzen. Dann konnte man nachempfinden, wie es sich als Spieler mit den Fans im Rücken anfühlt. Bei der ganzen Atmosphäre hätte ich fast weinen können“

Auf Facebook posten sie regelmäßig, was sie bewegt. Auch Nachrichten aus dem WG-Alltag sind zu lesen: „Endlich haben wir alle Klausuren überstanden! Hurra“ oder „Ich würde sagen, die Balkonsaison in der WG ist eröffnet.“

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Miriam ist im Ruhrgebiet angekommen. Der Besuch beim VFL Bochum zählt zwar zu den besten Erlebnissen, eigentlich schlägt ihr Herz aber für den BVB.

Nach dem 31. März endet das kostenlose Wohnen für die drei Studenten. Hat sich in den vergangenen fünf Monaten nun ihr Blick auf Bochum geändert? Was nehmen sie von diesem Experiment mit? „Wir haben vieles erlebt, was sonst nicht möglich gewesen wäre“, stellt Lukas fest. „Ich habe in Bochum mittlerweile viele Menschen kennen gelernt. Die Stadt ist zu meinem Lebensmittelpunkt geworden“, findet Phil. „Ich habe gemerkt, dass man hier unglaublich viel unternehmen kann. Bochum ist auf seine Art und Weise schön“, meint Miriam. Der RUB aber können sie auch heute keine Schönheit abgewinnen.
Die Drei haben versprochen, auch nach Ende der Univercity-WG weiterhin als Botschafter für Bochum unterwegs zu sein. Eine WG wird es laut Johanna Hüttner vorerst nicht noch einmal geben. Es fehle an weiteren Sponsorengeldern.

Miriam, Phil und Lukas werden ab nächster Woche wieder ganz normal Miete zahlen müssen. Miriam und Phil bleiben in der Wohnung. Lukas hat sich eine eigene Wohnung in Herne gesucht. „Ich wollte eigentlich schon immer etwas Eigenes haben, aber natürlich habe ich mich hier sehr wohlgefühlt.“ Ein Nachmieter für Lukas ist schon gefunden. „Es wäre natürlich optimal, wenn er geblieben wäre. Aber er ist natürlich auch so immer herzlich Willkommen“, betont Miriam. Ohne fertiges Ballkleid lässt sie ihn ganz bestimmt nicht davonkommen.

 

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