Doktorandenschmiede Deutschland

Zwei Jahre noch, schätzt Nils, dann hat er den Doktortitel in der Tasche. Auf dem Arbeitsmarkt gilt schließlich erst als gestandener Chemiker, wer eine Promotion abgeschlossen hat, da ist er sich sicher. Dr. Nils Wittenbrink heißt es dann ganz förmlich – doch darum geht es ihm nicht. Auf Titelhuberei habe er nie Wert gelegt. Aber hilfreich sei sie. Letztendlich fährt Deutschland total auf Titel ab.

In einem Land, wo natürliche Ressourcen und industrielle Fertigung schon lange nicht mehr als alleiniger Indikator für wirtschaftlichen Fortschritt gelten, rücken Wissen und Bildung immer mehr in den Vordergrund. Der Bedarf an hochqualifizierten Nachwuchswissenschaftlern in Deutschland und Europa ist groß, der Doktortitel gilt als Qualifizierungsmerkmal.

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Im Wissenssog: Wirtschaft ist Bildung, das Humankapital wächst. Teaserbild: Livia Rueger, Foto: Katharina Wieland Müller / pixelio.de

Das erkennen nicht nur die Politiker. Rund 200.000 Titelanwärter tummeln sich derweil in der Bundesrepublik, schätzt das Statistische Bundesamt. Der Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs 2013 verzeichnet steigende Zahlen: In den Jahren 2000 bis 2010 wurden im Schnitt 24.500 Promotionen erfolgreich abgeschlossen, 2011 waren es knapp 27.000. Die Medien ihrerseits sprechen von „Doktoranden-Inflation“ und „Titelwahn“, die Spitzenverbände der Wissenschaft fordern auf der anderen Seite kontinuierlich mehr.

Ein Teil dieser immer stärker wachsenden wissensbasierten Gesellschaft und Humankapital von morgen ist Nils Wittenbrink. 24 Jahre, Promovend in der theoretischen Chemie, Forschungsgebiet mehrdimensionale spin-orbit gekoppelte Potentialflächen. Bereits neben der Schule hat er Chemie an der Universität in Bielefeld studiert, ist nach dem Abitur direkt im dritten Semester eingestiegen. Auf den Bachelor folgten das Masterstudium und die Spezialisierung auf die Theorie, welche er in seiner Promotion seit dem vergangenen Jahr fortsetzt.

„Ohne Doktortitel wird man komisch angeguckt, gar nicht erst eingestellt“

Nicht für jeden lohnt sich die (Zusatz-)Arbeit: Ob der Doktorgrad wirklich mehr Geld bringt, hängt stark vom Fach ab. Foto:birgitH / pixelio.de

Im europäischen Vergleich promovieren überdurchschnittlich viele Hochschulabsolventen in Deutschland, wie der Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs 2013 schreibt. Foto: birgitH / pixelio.de

Damit ist Nils keine Besonderheit. „In der Chemie zu promovieren ist üblich, ohne Doktortitel wird man sonst komisch auf dem Arbeitsmarkt angeguckt, in der Industrie gar nicht erst eingestellt“, erklärt er die karrieregetriebene Promotionsmotivation. Das schlage sich nicht nur im besseren Gehalt wieder. „In der Forschungszeit lernt man mit Rückschlägen umzugehen, die Frustrationstoleranz steigt. Das sind Qualifizierungsmerkmale.“

Forschungsbegeistert und auf den Titel angewiesen, Nils Wittenbrink ist das Paradebeispiel eines Doktoranden. Zumindest laut der Definition von Dr. Daniel Müller. Der Leiter des gemeinsamen Graduiertenprogramms der geistes- und sozialwissenschaftlichen Fakultäten der Technischen Universität Dortmund  hat pro Semester mit rund 150 angehenden Doktoren zu tun, kennt die verschiedenen Motive. Und diese, so betont er, haben sich in den letzten Jahren nicht geändert.

Berufsbraucher, Verlegenheitspromovierende und Titelhascher

„Die größte Gruppe ist und bleibt die der Berufsbraucher: Sie sind de facto auf den Titel angewiesen und oft von der Fächerstruktur unter Druck gesetzt – der vollständige Abschluss ist hier nur die Promotion.“ Mediziner und Chemiker wie Nils fallen in diese Kategorie, circa 90 Prozent sind promoviert.

Andreas Dengs, www.photofreaks.ws / pixelio.de

90 Prozent der Mediziner und Chemiker sind promoviert. Foto: Andreas Dengs, www.photofreaks.ws / pixelio.de

Typ zwei ist der Idealfall, zeigt „Forschungsinteresse mit Wissenschaftsimpetus. Diese Art Promovend möchte auch nach Fertigstellung der Dissertation in der Forschung bleiben und weiter publizieren“, kategorisiert Müller. Die „Verlegenheitspromotion“ hingegen sei eine Notlösung, vor allem Geisteswissenschaftler wüssten oftmals nichts Besseres mit ihrer Zeit anzufangen. Ihr Motto: Bevor ich nichts mache, promoviere ich eben.

Einen bösen Beigeschmack hat für Daniel Müller die vierte Gruppe, die sogenannten „Guttenbergs der Republik: Diese Eitelkeitspromovierenden wollen sich einen karrieretechnischen Vorteil verschaffen, können sonst aber nicht viel.“ Mit dem Titel solle Eindruck geschunden werden – ein Phänomen der Jura und Betriebswirtschaftslehre.

Die Motivation der jeweiligen Fächerkultur spiegelt sich also in den Promotionsabsichten wieder. So ist es nicht verwunderlich, dass der höchste Anteil an Promotionen in den sogenannten MINT-Fächer liegt: 29 Prozent aller Titelanwärter  promovieren in der Mathematik und den Naturwissenschaften, gefolgt von den Ingenieurswissenschaften (22 Prozent) und der Fächergruppe Sprach- und Kulturwissenschaften (19 Prozent).

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Seite drei: Qualität sichern in der Masse an Promotionen – Betreuungsverhältnis und Struktur

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