„Hier ist Aufbruchsstimmung“

In der Türkei finden am Sonntag Kommunalwahlen statt. Im Land ist es seit den Protesten rund um den Gezi-Park und der Korruptionsaffäre politisch unruhig. Die Regierung steht in der Kritik. Zuletzt ließ Premierminister Recep Tayyip Erdogan sogar den Zugang zum Kurznachrichtendienst Twitter blockieren. Seit Freitag ist auch die Videoplattform YouTube gesperrt. Pflichtlektuere-Autorin Lara Enste verbringt gerade ihr Auslandssemester in Istanbul. Im Interview äußert sie sich zur Stimmung im Land, wie sie die Twitter-Blockade umgeht und ob sie sich sicher fühlt. 

pflichtlektuere: Wieviel kriegt man als Nicht-Türke von der Situation mit?

Lara: Hier ist Aufbruchsstimmung, es wird protestiert. Aber wir leben auch alle ganz normale Leben, es ist kein Ausnahmezustand. Selbst wenn in der Stadtmitte eine Demo ist, kann ich zu mir in den Stadtteil fahren und entspannt Köfte essen gehen. Das bedeutet nicht, dass unsere Diskussionen nicht oft politisch sind.

Wie ist die Stimmung im Land vor den Kommunalwahlen?

Alle gucken gespannt auf die Wahl am Sonntag. Aber die Stimmung insgesamt kann ich schwer einschätzen. Fakt ist: Den Wahlkampf kann man nicht umgehen. Wer sich bei uns über übermäßige Plakatierung beschwert, sollte vor einer Wahl mal nach Istanbul kommen. Überlebensgroße Transparente über den Kreuzungen, Plakatwand an Plakatwand und alles voller Fähnchen und Girlanden. Und es fahren Wagen durch die Gegend, die uns mit Musik volldröhnen.  Wer könnte sich in Deutschland vorstellen, dass Wagen herumfahren und ein auf Angela Merkel umgetextetes Volkslied spielen? Was dabei ein bisschen verloren geht: Der Gedanke, dass es um eine kommunale Wahl geht. Aber es wird zur Entscheidung für das Land hochstilisiert. Und ein bisschen habe ich auch Angst, dass es das wird – eine Entscheidung für die Zukunft der Türkei.

Warum hast Du Angst?

Erdogan hat die Wahl selbst als richtungsweisend interpretiert. Es ist ein Symbol für die Stimmung im Land. Erdogan hat damals auch als Bürgermeister von Istanbul angefangen. Er macht sehr personenbezogenen Wahlkampf und hängt überall an den Plakatwänden, obwohl es ja gar nicht un ihn geht.

Wie ist das politische Klima an deiner Universität? 

Prinzipiell definitiv ein kritisches. Es gab zu Berkin Elvans Tod eine spontane Demo auf dem Campus und lange eine kleine Gedenkstätte in der Mensa. Da wir eine Privatuni sind und ziemlich kritische Dozenten haben, diskutieren wir die aktuelle Politik auch in vielen Seminaren. Und für den Trauermarsch für Berkin Elvan haben einige Dozenten kommentarlos freigegeben. Viele Professoren sind auch sehr aktiv bei Twitter. Ich finde diese Atmosphäre toll. Dass die Uni ein sehr politischer Ort sein kann, das hat in Deutschland ja eher die Generation unserer Eltern erlebt. Aber das Leben geht schon normal weiter. Und wenn einige Plakate kleben, sitzen nebenan andere und trinken Latte Macchiato. 

Gedenken_Mensa

Gedenkstätte für Berkin Elvan in der Mensa der Bilgi Universität. (Fotos: Lara Enste, Teaserbild: Wikipedia //Creative Common)

 

Gibt es Diskussion mit Regierungsbefürwortern? Wie laufen diese ab?

Ehrlich gesagt, habe ich das noch nicht so richtig erlebt. Diejenigen, die Erdogan-Fans sind, sind das zum Teil nämlich sehr deutlich und möchten nicht unbedingt diskutieren. Und gemäßigte stimmen oft zu, dass er im Moment zu weit geht. Proteste im Gezi-Park und eine Korruptionsaffäre: Chronik der Staatskrise in der Türke

Warst Du schon am Taksim? Wie hast Du diesen Besuch erlebt und was erinnert noch an den vergangenen Sommer?

Klar, der Taksim ist ja nicht nur der Ort aus den Nachrichten. Er ist hier der Haupttreffpunkt, er geht auch in die Haupteinkaufsstraße über. Mindestens ein, zwei Polizeibusse stehen hier immer – abhängig von der momentanen Lage auch mal deutlich mehr plus ein paar Wasserwerfer. Dennoch ist das ein ganz normaler, lebendiger Platz: Mit Simit-Verkäufern (Sesamkringel), Blumenhändlern und den Touristen auf dem Weg von und zur Metro. Im Gezi-Park kann man auch ganz normal in der Sonne sitzen.

Wie sieht mit der Sicherheit aus: Fühlst Du dich sicher? 

Ich habe Respekt vor den Protesten und vor der Reaktion der Polizei, sagen wir mal so. Einmal habe ich selbst Reizgas eingeatmet und musste zum Glück nur heftig husten. Aber das ist ja nicht das Schlimme: Die Hilflosigkeit und das Gefühl, Situationen nicht einschätzen zu können, finde ich viel schlimmer. Denn natürlich würde man oft sogar gerne mitdemonstrieren: Wenn um einen herum alles in Bewegung ist, für Freiheit und Demokratie protestiert, dann möchte man solidarisch sein – und ist ja auch ansonsten neugierig, möchte realistisch in die Heimat berichten. Aber es ist super schwer, die Stimmung einzuschätzen – und wir kennen im Zweifel die Gegend zu schlecht, um schnell wegzukommen, wenn die Polizei eingreift. Die Polizei hat nach dem Tod von Berkin Elvan und den Protesten schon verstärkt Präsenz gezeigt. Die Wasserwerfer warteten in vielen Seitenstraßen. Und Polizisten daneben: Oft in voller Montur, mit angeschnallter Gasmaske am Gürtel. Aber sie warteten einfach. Quatschten, aßen Döner. Im Moment hat es sich wieder relativ beruhigt. 

Die Regierung geht gegen die jüngere Social Media-Generation vor. Wodurch hebt die sich von anderen ab?

Ich glaube,  „die jüngere Generation“ ist noch zu weit gefasst. Es sind die engagierten, die politisch interessierten jungen Menschen. Und dann umfasst „jungen“ natürlich auch nicht nur uns, sondern mindestens eine halbe Generation über uns. Ich habe zum Beispiel viele Professoren und Dozenten, die in Menschenrechts- und politischen Fragen sehr engagiert sind und über Sätze à la ‚I don’t care what the international community says‘ einfach nur den Kopf schütteln. Unter den Erdogan-Kritikern sind viele, die selbst im Ausland waren, die ihre Meinungsfreiheit hier eingeschränkt sehen. 

Wie informierst Du dich, trotz Zensur bei Twitter? 

Ich benutze im Moment tatsächlich den VPN-Client unserer Dortmunder Uni. Den habe ich mir mit der Twitter-Sperre sofort auf Laptop, Tablet und Handy installiert. Eigentlich soll er mir ja Zugang zu E-Books und Co für meine Hausarbeit verhelfen. Aber jetzt hilft er mir eben auch, mich auf dem Laufenden zu halten, das ist schon ein deutlicher Vorteil. Wir tauschen uns über Facebook über sowas aus, viele haben sich jetzt entsprechende Apps installiert, das war in der Türkei der Hit bei den App-Verkäufen. Es gibt aber auch „informierende“ Graffitis und ich war sogar in einem Club, der alternative DNS an der Wand hängen hatte.

Twitter_Club

Alternative DNS an der Wand eines türkischen Clubs, sinngemäß: „Vogelgezwitscher wird überall zu hören sein!“

  

1 Comment

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert