Ein sprechender Chor

Sie flüstern und schreien die Worte, machen abrupte Pausen oder nutzen ihren ganzen Körper, um die Sprache zu unterstreichen. Die rund 100 Mitglieder des Dortmunder Sprechchores sind Laien, die inzwischen bei zahlreichen Produktionen beim Schauspiel des Theater Dortmunds mitwirken. Der Dramaturg Alexander Kerlin und der Schauspieler Christoph Jöde leiten den Sprechchor, der inzwischen schon bei vielen Veranstaltungen aufgetreten ist.

Der Begriff „Chor“ kann schon verwirren. Denn anders als ein normaler Chor singt der Sprechchor nicht. Das, was er tut, nennt sich „chorisches Sprechen“. Seinen Ursprung hat chorisches Sprechen im antiken griechischen Theater. Bei Sophokles gab es beispielsweise einen Chor, der das Volk darstellte. So hatte chorisches Sprechen eine besondere Wirkung, da die Worte im Schauspiel unisono besonders laut und wirksam sind. In Sophokles Fall sollte so die Demokratie im Volk dargestellt werden. Im griechischen Drama war es sonst durchaus üblich, dass der Chor gesungen hat.

Gesungen wird im Dortmunder Sprechchor gar nicht, obwohl einige Mitglieder auch in „normalen“ Chören singen. Meistens sprechen die Mitwirkenden unisono und erzeugen so eine intensivere Wirkung der Worte, als wenn sie von nur einem gesagt würden. In anderen Fällen beginnt ein Mitglied des Chores einen Kanon oder verschiedene Gruppen sprechen unterschiedliche Texte durcheinander. Auch die Art des Sprechens variiert: Die Mitglieder flüstern, schreien, rufen, plappern, ächzen oder murmeln. Und manchmal ist auch einfach nur Stille.

Flashmob in der Thier-Galerie: „Geschäfte. Geschäfte. Geschäfte.“

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Für seinen "Flashmob" hat sich der Sprechchor die Thier-Galerie ausgesucht. Foto: CKoontz/flickr.com. Teaserbild: friedlich/flickr.com

Seitdem machte der Sprechchor unter anderem durch einen Flashmob in der Thier-Galerie auf sich aufmerksam. „Wir haben uns in der Thier-Galerie einfach unters Volk gemischt“, erzählt Inge Nieswand, die von Anfang an beim Sprechchor dabei war. Alle Chormitglieder trugen weiße Hemden oder Blusen, darüber ihre normale Kleidung, um zunächst nicht aufzufallen. „Wir sind die Rolltreppen hoch und runter gefahren und Christoph hat uns Zeichen gegeben“, so Nieswand.

„Geschäfte. Geschäfte. Geschäfte.“, ruft der Chor laut, aber mit Pausen zwischen den Wiederholungen. „Die Leute haben ziemlich neugierig geguckt“, berichtet Nieswand augenzwinkernd, der die Aktion ziemlichen Spaß gemacht hat. Erst später präsentierte der Chor den „Dortmund-Text“, den die beiden Chorleiter geschrieben haben: „Dortmund. 76 Meter über Normalnull“, so begann der Sprechchor den Text, als würde nur eine Stimme ihn aufsagen. Chorleiter Jöde gab den Einsatz mit einem Dirigentenstab. Der Sicherheitsdienst war von dieser Aktion des Sprechchores nicht begeistert. „Christoph hat Hausverbot bekommen“, erzählt Inge Nieswand sichtlich wütend. Dabei scheint sie sonst als freundliche ältere Dame, die nicht viel wütend macht.

17. Ensemblemitglied: Sprechchor

Seit dem Flashmob hat der Sprechchor seine feste Rolle im Ensemble des Dortmunder Schauspiels gefunden. Schauspieldirektor Kay Voges bezeichnete ihn sogar als „siebzehntes Ensemblemitglied“. „Kay wollte, dass wir bei Lessings ‚Gespenster‘ mitmachen“, erzählt Nieswand über eine der ersten Beteiligungen des Sprechchores im Schauspiel. Weitere Produktionen, an denen der Sprechchor unter anderem mitwirkte, sind „Der Meister und Margarita“ von Bulgakow, „Leonce und Lena“ von Büchner und „Antigone“ von Sophokles. „Antigone hat mich in der Schule schon berührt, als wir das durchgenommen haben“, erinnert sich Nieswand. Dort sei der Sprechchor eben in der Rolle des antiken Chores beteiligt gewesen.

Einmal die Woche, meist zwei Stunden lang, proben die Laien. Bei Produktionen können durchaus Sonderproben am Wochenende dazu kommen. Die Proben beginnen mit Körpertraining, das beim Schauspiel Alltag ist. „Sich als Einzelner vor den ganzen Chor stellen und sich anschauen lassen, das ist für viele schon eine Herausforderung“, berichtet Nieswand. Sie selbst hat vor dem Chor als Statistin oder Laienschauspielerin schon viele Erfahrungen im Theater gesammelt und kennt deshalb diese Lockerungsübungen. Außerdem gibt es ein „Einsprechen“, sozusagen als „Einsingen“ des Sprechchores. „Brrrrr“ oder „sssss“ heißt es da durcheinander, denn so soll der Kiefer gelockert werden. In der zweiten Hälfte der Proben werden die Texte gesprochen, die der Chor gerade einübt.

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Stolz schaut Inge Nieswand sich die Fotos der vergangene Auftritte an. Fotos: Janina Semenova

Gleich schnell muss es sein

Inge Nieswands Texte sind übersät mit Anmerkungen. Bestimmte Zeichen stehen für die Lautstärke, Betonungen oder Pausen. So hat der Chor eine eigene Lautstärken-Skala von eins bis zehn. „Zehn ist richtig lautes Schreien“, erklärt Nieswand. Kleine schwarze Quadrate zeigen je nach ihrer Größe die Länge der Pausen zwischen den einzelnen Textzeilen an. Wörter, die betont werden sollen, sind unterstrichen. Diese Zeichen helfen dem Chor, denn chorisches Sprechen ist eine echte Herausforderung: „Es ist schwierig die gleiche Schnelligkeit beizubehalten“, sagt Nieswand. Ein weiteres Problem seien Tonlage und Duktus, also der Sprachstil, da diese Eigenschaften oft nicht leicht mit vielen Menschen vereinbar seien.

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So sehen Inge Nieswands Texte meistens aus. Die Quadrate stehen für Pausen.

Mehr als nur Sprache nutzt der Sprechchor in dem Theaterstück „Das phantastische Leben der Margot Maria Rakete“. In diesem Projekt ist der Chor erstmalig Protagonist. Nur mit ihrem Körper machen die Mitglieder des Sprechchores ein Unwetter nach: Sie klatschen, schnipsen, klopfen auf ihren Körper und machen verschiedenste Geräusche mit ihrer Stimme. In anderen Szenen tanzt der Chor wild durcheinander. „Bei diesem Stück sind wir die Schauspieler“, sagt Nieswand stolz. Dazu brauchen die Laien Bühnenpräsenz, denn ein Sprechchor ist schließlich kein normaler Chor. Er ist Teil des Schauspiels auf der Bühne, dessen Sprache er mit der gewaltigen Wirkung von synchron klingenden Worten unterstützt.

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