30 Jahre Tschernobyl: Der erste GAU

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Tschernobyl ist eines der bisher größten Unglücke in der zivilen Nutzung der Kernenergie.  Am 26. April 1986 kam es im Block 4 des Atomkraftwerks zur Kernschmelze. Die anschließende Explosion verteilte radioaktives Material bis nach Europa – der Super-GAU trat ein. Auslöser für die Katastrophe war ein Sicherheitstest der Anlage. Ein Überblick über den Unfall und die Folgen.

Es war der „größte anzunehmende Unfall“: Am 26. April 1986 wurde im Atomkraftwerk Tschernobyl die Sicherheit des Reaktors in Block 4 getestet. Dabei sollte geprüft werden, ob das Kraftwerk während eines Stromausfalles noch genug Energie produzieren kann, um den Reaktor zu kühlen. Durch mehrere Fehler geriet der Test außer Kontrolle. Die Kernschmelze trat ein, der Reaktor explodierte.

Mehr als nur menschliches Versagen

Häufig wird rein menschliches Versagen für den Unfall verantwortlich gemacht. Für Christoph Pistner fasst diese Erklärung allerdings zu kurz. Er ist Gutachter im Bereich „Nukleartechnik und Anlagensicherheit“ beim Öko-Institut in Darmstadt, einer unabhägigen Forschungseinrichtung. Außerdem ist Christoph Pistner Mitglied in der Reaktor-Sicherheitskommission des Bundes. Er erklärt: „Grund für Tschernobyl war eine Mischung aus Faktoren. Der Mensch und fehlerhafte Organisation sind zwei davon. Es gab aber auch grundsätzliche technische Fehler und Defizite im Design des Reaktors.“

Ein Beispiel für die technischen Fehler sind die Regelstäbe im Reaktor, die ein- und ausgefahren werden können. Eingefahren kontrollieren die Stäbe die atomare Kettenreaktion, in dem sie Neutronen absorbieren. Die Neutronen können so nicht mehr an der Kettenreaktion teilnehmen – die Reaktion wird „gebremst“.  Durch die Stäbe kann so die Leistung des Reaktors reguliert und die Kettenreaktion auch beendet werden. Die Regelstäbe in Tschernobyl konnte diese Aufgabe aber nicht sicher erfüllen. „Das Problem der Regelstäbe in Tschernobyl war, dass sie, wenn sie wieder eingefahren werden den Reaktor für eine kurze Zeit kritischer machen, anstatt ihn zu sichern. Deswegen durften in dem Reaktor auch immer nur ein paar Stäbe ausgefahren werden“, erklärt Christoph Pistner. Auch beim Unfallablauf spielten die Regelstäbe eine Rolle.

Was passierte im Reaktorblock 4?

1:00 Uhr - Freitag, 25. April 1986
Für den Test wird damit begonnen, den Reaktor herunterzufahren
14:00 Uhr - Freitag, 25. April 1986
Um 13 Uhr wurde die Leistung bereits auf 50 Prozent reduziert. Jetzt wird das Notkühlsystem des Reaktors abgeschaltet. Da aus Kiew Strom gefordert wird, wird der Test verschoben und der Reaktor in diesem Zustand weiter betrieben.
23:10 Uhr - Freitag, 25. April 1986
Das Herunterfahren des Reaktors wird fortgesetzt. Ziel ist eine Leistung von 25 Prozent.
0:28 Uhr - Samstag, 26. April 1986
Aus ungeklärten Gründen fällt die Leistung auf unter 1 Prozent ab. Unterhalb von 20 Prozent wird der Reaktor instabil. Der Test hätte abgebrochen und der Reaktor abgeschaltet werden müssen. Stattdessen wird versucht seine Leistung wieder zu erhöhen, indem mehrere Regelstäbe aus dem Reaktor ausgefahren werden. Durch das Ausfahren wird die Leistung auf 7 Prozent erhöht. In der nächsten halben Stunde werden noch mehr Regelstäbe entfernt, die eigentlich der Sicherung der Kettenreaktion dienen.
1:23 Uhr - Samstag, 26. April 1986
Trotz des instabilen Zustands des Reaktors wird mit dem Test begonnen und der Wasserzufluss zum Reaktor unterbrochen. Dadurch steigt die Temperatur und es kommt zur unkontrollierten atomaren Kettenreaktion: Innerhalb von wenigen Sekunden steigt die Reaktorleistung rapide. Der Versuch, den Reaktor per Hand abzuschalten, scheitert. Die Leistung des Reaktors und die Temperatur steigen weiter, das Kühlwasser verdampft. Im Abstand von wenigen Sekunden kommt es zu zwei Explosionen, die das Dach des Reaktors zerstören. Der Reaktor brennt. Radioaktive Stoffe geraten in die Luft. Die Strahlenwolke verbreitet sich über Europa.

Die Folgen der Katastrophe

Nach dem Unfall wurden Tausende Helfer, sogenannte „Liquidatoren“, nach Tschernobyl geschickt um die Folgen einzudämmen. Erst nach 10 Tagen gelang es ihnen den Brand im Reaktor zu löschen. Solange hatte der Reaktor weiter radioaktive Stoffe in der Luft verteilt. Um die restliche Strahlung des Reaktors unter Kontrolle zu bringen, wurde um ihn eine Schutzhülle aus Beton gebaut. Der „Sarkophag“ wurde im September 1986 fertiggestellt. 

Der Großteil der gefährlichen Strahlung ist allerdings in den ersten 10 Tagen nach dem Unfall entwichen. Weite Teile Europas sind davon bis heute kontaminiert. Auch Deutschland, wie Christoph Pistner erklärt: „Wir haben nach wie vor besonders im bayrischen Wald eine hohe Cäsium-Kontamination. Wenn dort z.B. Wildschweine geschossen werden, muss der Strahlenwert gemessen werden, der sehr häufig zu hoch ist.“ Das Gebiet um das Atomkraftwerk ist bis heute in einem 30 Kilometer Radius gesperrt. Die Strahlung ist so hoch, dass sich Menschen dort nicht dauerhaft aufhalten können. Das gesamte Ausmaß der Folgen ist heute allerdings immer noch nicht genau abzuschätzen.

Kann es noch einmal passieren?

Es lässt sich schwer sagen, ob so ein Unfall nochmal geschehen kann. Christoph Pistner bezweifelt, dass Tschernobyl noch einmal eins zu eins passiert. Für ihn geht es mehr um die einzelnen Faktoren des Unfalls: „Wenn man auf den breiteren Ablauf schaut, dann lassen sich die einzelnen Fehler auch auf andere Kernkraftwerken übertragen. Die technischen und personellen Defizite, die Missachtung von Regeln – wenn das alles zusammenspielt, kann man einen erneuten Super-GAU nicht ausschließen. „Bei Atomkraftwerken kommt es allerdings nur selten zu solchen schlimmen Unfällen. Dennoch birgt die Kernenergie viele Risiken, erklärt Christoph Pistner: „Atomenergie besitzt ein sehr großes spezifisches Katastrophenpotenzial – wenn etwas passiert, dann ist der Schaden sehr hoch. Die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem Unfall kommt ist allerdings sehr gering. Die Entscheidung zur Kernenergie wird so zu einem Abwägungsprozess.“ In Deutschland hat man sich für den Ausstieg aus der Kernenergie entschieden – wohl auch wegen Tschernobyl vor 30 Jahren. 

Beitragsbild: flickr.com/Marco Fieber

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