30 Jahre Tschernobyl: Das Zittern der Deutschen

Proteste gegen das Kernkraftwerk in Kalkar, 1979

Heute vor 30 Jahren wurde die ukrainische Stadt Tschernobyl zum Sinnbild für Atomunglücke. Die Auswirkungen dieser Katastrophe bekamen auch die Deutschen zu spüren — allerdings nicht nur durch sauren Regen, sondern auch durch die Ängste, von denen der politische Diskurs der Folgezeit geprägt war. Wir zeigen mit Zahlen und Grafiken, wie sich die deutsche Einstellung zur Kernkraft nach den Atomunglücken geändert hat .

Kernkraft ist in mancherlei Hinsicht die sicherste Energiequelle, die wir kennen. In Todesfällen pro produzierter Einheit Strom gemessen, liegt sie weit unter der Kohlekraft. Selbst Wasserkraft und Solarenergie können nicht mithalten, wie Wissenschaftler James Conca für Forbes Magazine untersucht hat. Das liegt vor allem daran, dass Kernkraftwerke keine Schadstoffe ausstoßen: Allein der CO2-Ausstoß der Kohle- und Ölindustrie treibt deren Todesrate durch Langzeitbelastungen massiv in die Höhe.

Der andere Grund ist, dass Atomunglücke recht selten sind. Deshalb fällt die Tödlichkeit im Durchschnitt weit unter die anderen Energieträger. Dennoch: Das Max-Planck-Institut hat 2012 die Wahrscheinlichkeit eines Reaktorunfalls hochgerechnet. Ihnen zufolge müssen wir in Westeuropa immerhin etwa alle 50 Jahre mit einem nuklearen Zwischenfall rechnen. Weil es weltweit vergleichsweise wenige Kernkraftwerke gibt und noch viel weniger Zwischenfälle, könnte die wahre Zahl aber von dieser Schätzung deutlich abweichen.

 

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Zitiert nach: James Conca, Forbes Magazine. Siehe auch: Brian L. Wang, Next Big Future.

Das Problem mit der Atomkraft ist: Wenn es einmal schief geht, dann sind die Folgen schrecklich. 

Am 26. April 1986 explodierte während einer Sicherheitsüberprüfung der Reaktor in Block 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl. Aufgrund der großen Mengen radioaktiver Stoffe, die aus dem Kraftwerk in die Umgebung gelangten, sind nach Schätzungen der WHO insgesamt über 350 000 Menschen aus den am schwersten kontaminierten Gebieten geflohen. An den Spätfolgen der Radioaktivität, die sich in einer Wolke über viele europäische Staaten bis nach Skandinavien und Süddeutschland ausbreitete, starben Hochrechnungen zufolge etwa 4000 Menschen. Die Schwere der Langzeitfolgen lässt sich bis heute kaum abschätzen.

Politik im Zugzwang

Die Katastrophe schürte auf der ganzen Welt die Angst vor dem „Größten anzunehmenden Unfall“, dem GAU. So auch in Deutschland. Möglicherweise verseuchtes Essen wurde nicht mehr verkauft, Spielplätze wurden geschlossen und die Bevölkerung gewarnt, nicht mehr bei Regen das Haus zu verlassen. Denn der konnte ebenfalls verstrahlt sein. Die deutsche Anti-Atomkraft-Bewegung, die bereits seit den 70er Jahren recht aktiv war, gewann durch die Katastrophe neuen Schwung. Sie war schon vorher nicht nur die Sache der Umweltbewegungen gewesen, doch nun erwartete auch die breite Öffentlichkeit mehr denn je ein Umdenken von der Regierung.

Die Politik der damaligen BRD sah sich im Zugzwang, auf die Ängste der Bevölkerung zu reagieren. In dieser Krisensituation gelangen Entscheidungen, die sonst Jahre brauchten, plötzlich in überraschend kurzer Zeit. Pläne für einen übergreifenden Bundesbereich für Umweltangelegenheiten habe es bereits seit Anfang der 70er Jahr gegeben, heißt es von offizieller Seite. Doch plötzlich wurde aus Plänen Ernst: Am 6. Juni 1986, kaum sechs Wochen nach dem Unglück, hatte die BRD ein neues Bundesministerium mit dem recht spezifischen Titel „Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit“ (heute: „Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit“). Noch im gleichen Jahr trat außerdem das Strahlenschutzvorsorgegesetz in Kraft, das bis heute dazu da ist, „die Radioaktivität in der Umwelt zu überwachen“ und Maßnahmen für den nuklearen Ernstfall festzulegen.

Anmerkung: Die Daten wurden bis 1990 nur für die alten Bundesländer erfasst. Durch die Wiedervereinigung ist der Sprung in der Kurve zu begründen. Grafik: Kira Schacht. Quelle. AG Energiebilanzen.

Trotzdem änderte sich an der Nutzung von Kernenergie in Deutschland zunächst nicht viel: Nach wie vor wurden circa 30 Prozent des Stroms in der BRD durch Kernenergie erzeugt. In den Jahren nach dem Unglück stieg der Wert sogar an, wie die Zeitreihe veranschaulicht. Zwar wurden seit 1986 keine neuen Atomkraftwerke in Deutschland gebaut, in den nächsten Jahren wurden jedoch entgegen aller Proteste noch sechs weitere Anlagen in Betrieb genommen, die bereits im Aufbau waren. Erst seit 1989 werden in Deutschland keine neuen Atomkraftwerke mehr gebaut.

Nur zwei Projekte scheiterten schließlich an den Protesten der neu beflügelten Atomkraftgegner: Die Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf wurde nach heftigen Demonstrationen 1989 endgültig aufgegeben und beherbergt inzwischen einen Industriepark. Auch dem „Schnellen Brüter“ in Kalkar am Niederrhein, damals bereits seit zwei Jahrzehnten in Planung, gab der Stimmungsumschwung den Rest. Das Projekt wurde 1991 eingestellt.

DDR: Als es auf einmal Tomaten gab

In der DDR wurden die Geschehnisse in Tschernobyl im Gegensatz dazu weitestgehend totgeschwiegen. Erst als die Nachricht aus Westdeutschland herüberschwappte, wurde die radioaktive Verseuchung in den DDR-Medien überhaupt anerkannt und ab dann konsequent heruntergespielt. Bemerkenswert war für die DDR-Bürger jedoch, dass es in der Zeit nach dem Unglück große Mengen von sonst seltenem Gemüse an allen Ecken zu kaufen gab: Lieferungen aus dem Osten, die Händler in anderen europäischen Ländern wegen der Verseuchung nicht kaufen wollten.

Das Ende der 80er Jahre sah schließlich nicht nur die deutsche Wiedervereinigung, sondern auch die letzte Inbetriebnahme eines neuen Atomkraftwerks 1989.  In den 90er Jahren schwankt der Anteil der Kernenergie an der Stromerzeugung des Landes zwischen 28 und 31 Prozent. Bereits seit 1999, parallel zum Aufstieg der erneuerbaren Energien, sinkt er jedoch kontinuierlich. Erst ein zweites Atomunglück gab der deutschen Energiewirtschaft jedoch den Schubs, den sie brauchte, um den Einstieg in den Ausstieg wirklich zu schaffen.

Im März 2011, gerade mal einen Monat vor dem 25. Jahrestag des Unglücks in Tschernobyl, löste ein Erdbeben eine Kette von Unfällen im japanischen Atomreaktor Fukushima Dai-ichi aus. In Deutschland wurde das Thema Atomkraft plötzlich wieder brandaktuell. Schließlich ging es diesmal nicht um einen maroden UdSSR-Reaktor, sondern um ein modernes Kraftwerk, wie es auch in Deutschland stehen könnte. Die Möglichkeit eines Atomunglücks schien plötzlich sehr real, der Ruf nach einem Atomausstieg war entsprechend laut.

…da waren’s nur noch acht

Diesmal zeichnete sich der abrupte Aktionismus der Energiepolitik auch in den Zahlen deutlich ab: Zwar sinkt der Anteil der Kernenergie an der deutschen Stromerzeugung schon seit einer Weile kontinuierlich, doch seit 2011 zeichnet sich ein deutlicher Knick nach unten ab. Nicht ohne Grund: Noch im August 2011 wurden acht der damals sechszehn deutschen Atomkraftwerke abgeschaltet; all die nämlich, die vor dem Jahr 1980 erbaut wurden. Das beschloss die Bundesregierung am 6. Juni 2011, knapp drei Monate nach dem Unglück, mit dem sogenannten 13. Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes.

Diese Kraftwerke sind zwar endgültig außer Betrieb und produzieren seit bald fünf Jahren keinen Strom mehr. Bis heute ist aber für keines davon eine Stilllegungsgenehmigung erteilt worden. Die radioaktiven Brennstäbe wurden zwar bereits entfernt, doch die verstrahlten Anteile der Anlage selbst wurden noch nicht abgebaut. Das ist nicht ungewöhnlich: Mit fünf Jahren zwischen Abschaltung und Beginn der Stilllegung liegen die acht Anlagen noch im Durchschnitt. Vereinzelt gab es auch bereits heftigere Fälle: Das Kraftwerk Mülheim-Kärlich war bereits 1988 aus dem Betrieb genommen worden. Erst 2004, gut 15 Jahre später, wurden schließlich Maßnahmen ergriffen, um das Kraftwerk zurückzubauen.

Am 26. April 1986 waren in Deutschland 23 Atomkraftwerke in Betrieb. Nachdem 2015 auch das Kraftwerk Grafenrheinfeld abgeschaltet wurde, sind es heute nur noch 7. Im Jahr 1986 wurden fast 30 Prozent des Stroms in der BRD durch Kernkraft erzeugt. Heute ist der Wert weniger als halb so groß. Viele Faktoren spielen dabei eine Rolle. Einer davon ist ganz sicher der Eindruck, den Unglücke wie Tschernobyl und Fukushima auch in Deutschland hinterlassen haben.

Beitragsfoto: Nationaal Archief. Grafiken: Kira Schacht. 

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