Duell am Donnerstag: Public Viewing

18.000 Menschen auf dem Dortmunder Friedensplatz feiern den Achtelfinaleinzug der deutschen Nationalmannschaft. Mittendrin die pflichtlektüre-Autoren Jannik Sorgatz und Lisa Schrader. Beide fußballbegeistert, beide Deutschlandfans, nur in einer Sache nicht einig: Ob das Rudelgucken wirklich die beste Art und Weise ist, eine Partie der DFB-Elf zu verfolgen.

Von Jannik Sorgatz

Dortmund, auf dem Friedensplatz, Mittwoch um 19:30 Uhr. Ich habe es tatsächlich getan. Für die deutsche Nationalmannschaft geht es in einer Stunde um alles. Mein persönliches Endspiel hat bereits begonnen. Public Viewing, zwei Wörter, gegen die ich mich seit nunmehr vier Jahren wehre, bis jetzt stets mit Erfolg.

Auf der Bühne versucht eine korpulente, in die Jahre gekommene Frau die Massen in Wallung zu bringen. Sie covert Tina Turner, legt noch ein paar Rhythmen aus ihrer jamaikanischen Heimat nach. Während die Armpaare in fünfstelliger Ausführung in die Luft gereckt werden, frage ich mich erstmal, ob die preiswert eingekaufte Sängerin nicht doch einfach eine braun gebrannte Serbin oder Rumänin ist.

Aber ich will dem Public Viewing eine Chance geben, mich zu überzeugen. Ich will noch nicht kapitulieren, bevor das Spiel überhaupt begonnen hat. Kurz darauf höre ich zwei Zahnspangenträger hinter mir über Deutschland und Ghana philosophieren. Gerade haben sie entscheiden, am nächsten Morgen die ersten beiden Schulstunden sausen zu lassen. Jetzt sagt der eine: „Mensch, wir müssen das Ding unbedingt gewinnen.“ Woraufhin sein Freund entgegnet: „Aber für die WM wäre es auch wichtig, dass Ghana als Gastgeber weiterkommt.“ Um 19:45 Uhr beginne ich, diesen Artikel auf die Rückseite meiner Stirn zu tippen. Der Tenor steht fest.

Blick nach vorne: 36.000 Augenpaare schauten sich Deutschland gegen Ghana an. Foto: Jannik Sorgatz

Blick nach vorne: 36.000 Augenpaare schauten sich Deutschland gegen Ghana an. Foto: Jannik Sorgatz

Eins muss ich jedoch klarstellen: Es gibt kaum Schöneres im Leben, als mit Tausenden Menschen in der Kurve zu stehen. Ich habe nichts gegen eine dezente Bierdusche im Freudentaumel. Und „You’ll never walk alone“ ist eines meiner Lieblingslieder. Wenn die Bierdusche jedoch ausfällt, weil die Massen sich bereits vor den Toren des Platzes den Wodka im Akkord eingeflößt haben und schon vor dem Anpfiff so voll sind wie die A40 im Berufsverkehr, läuft irgendetwas falsch.

Die Abtastkontrollen am Eingang werden nicht mit der Frage verbunden, wie viele Länderspieltore Gerd Müller erzielt hat. Aber vielleicht sollten die Securityleute zumindest testen, ob die Teenies mit ihren Hawaiiketten, schwarz-rot-goldenen Hasenohren, Schmink- und Alkoholfahnen überhaupt wissen, wer sich 90 Minuten lang auf der Leinwand duellieren wird.

Nach der vollen Dröhnung WM-Schlager darf „Seven Nation Army“ natürlich nicht fehlen. Jenes Lied von den „White Stripes“, das einst ein richtig schönes war, bis es in den Stadien Europas die Mitgrölreife erhielt. Ob Jack White überhaupt davon weiß? Eigentlich müsste er sich, 34 Jahre alt und bester Gesundheit, allein deshalb ein provisorisches Grab schaufeln, damit er sich jedesmal darin umdrehen kann, wenn das Lied irgendwo beim „Rudelgucken“ gespielt wird. Dööö dödö dö dödö dö.

Ich würde derweil gerne hören, was Netzer und Delling in ihrem verglasten WM-Studio von sich geben. Wer ersetzt Klose? Müssen wir nicht aus allen Lagen schießen, um den unsicheren Keeper von Ghana zu fordern? Spielt Boateng auf Links wirklich für Badstuber? Das Public-Viewing-Volk hat andere Sorgen. „Jemro… Jeremo… Jerôme“, hat einer von ihnen Probleme, bei der Mannschaftsaufstellung den Vornamen von Deutschlands Linksverteidiger vorzulesen. Immerhin ist die Boateng-Frage beantwortet.

Aufregung in Johannesburg: 11.000 Kilometer nördlich wird mitgefiebert. Foto: Jannik Sorgatz

Aufregung in Johannesburg: 11.000 Kilometer nördlich wird mitgefiebert. Foto: Jannik Sorgatz

Zum Glück ruft um 20:30 Uhr Johannesburg. Rechtzeitig zu den Nationalhymnen verstummen die Spaßmacher auf der Bühne. „Einigkeit und Recht und Freiheit“ – dann bin ich raus. Die verblüffend Wenigen, die überhaupt singen, singen so falsch wie eine DVD-Edition „Deutschland sucht den Superstar – die Castings“. Dann beginnt das Spiel. Die DFB-Elf kommt gut rein, steht hinten jedoch so wackelig wie ein 80 Zentimeter hoher Jenga-Turm. Neben mir vertreiben sich zwei 15-Jährige die Zeit mit Abklatschspielen. Könnte ich böse gucken, würde ich ziemlich böse gucken.

In der Halbzeit erreicht die Tragödie – die auf dem Friedens-, nicht die auf dem Fußballplatz, wo es 0:0 steht – ihren vorläufigen Höhepunkt. Mike macht seiner Yvonne auf der Bühne einen Heiratsantrag. Die 18-Jährige sagt „Ja“. Zuhause wartet das zweijährige Töchterchen. Und ich dachte, so etwas gibt es nur mittags um Zwei auf RTL. 1:0 für Mike.

Von Netzer und Delling ist noch immer keine Spur. Dabei läge die Expertenlegende Netzer frisurentechnisch auf dem Friedensplatz ganz vorne. Würde man sich vor den Spiegel stellen und überlegen, mit welcher Frisur man wohl am, pardon, beschissensten aussähe – zwischen Leinwand und Bierpavillon finden sich noch immer Exemplare, auf die man nie im Leben gekommen wäre. Kurz darauf sind alle Blicke wieder nach vorne gerichtet. Das Frisuren-Dilemma wird von hinten nur noch von hunderten Vokuhilas vertreten. Die zweite Hälfte beginnt.

Die deutsche Mannschaft steht hinten weiter nicht sicher. Vorne lässt sie geduldig den Ball durch die Reihen laufen. Es läuft die 60. Minute, als Thomas Müller auf Mesut Özil passt. Der Bremer nimmt den Ball geschickt an, schießt Dropkick – Tor! Für eine halbe Minute sind der Friedensplatz und ich beste Freunde. Australien trifft zudem gegen Serbien. Ein weiterer Aufschrei geht durch die Menge – immerhin haben die 18.000 die Verknüpfung zwischen einem Tor der Australier und dem Wort „gut“ herstellen können.

Dann ist es vorbei, Deutschland steht im Achtelfinale. Gegner in Bloemfontein wird England sein. Mein ganz persönlicher Austragungsort am Sonntag: auf jeden Fall nicht der Dortmunder Friedensplatz.

Des einen Freud', des anderen Leid: Lisa macht Jannik fertig fürs Public Viewing auf dem Friedensplatz. Foto: Kerstin Börß

Des einen Freud', des anderen Leid: Lisa macht Jannik fertig fürs Public Viewing auf dem Friedensplatz. Foto: Kerstin Börß

Keine Ausreden! Bei der WM geht man Rudelgucken.

Von Lisa Schrader

Die Leute stehen dicht gedrängt und starren gebannt aufs Spielfeld. Sie tragen Hawaiiketten, Fahnen und Hüte in schwarz-rot-gold, auf ihren Trikots prangen Namen wie Lahm, Podolski, Mertesacker und Klose. Vergeben eben jene eine Großchance greifen sich die Zehntausenden fassungslos an den Kopf. Und fällt dann endlich der ersehnte Siegtreffer, hört man ein „Jaaaa!“ wie aus einem Mund. Das einzige, was dieses Erlebnis vom richtigen Stadiongang unterscheidet, ist die Tatsache, dass es eben nicht im richtigen Stadion stattfindet.

Public Viewing, das, was seit der WM 2006 in Deutschland die Massen begeistert, ist die einzig wahre Alternative zum Live-Dabei-Sein bei großen Spielen der deutschen Nationalmannschaft. Denn was will denn der normale deutsche Fußballfan? Das Spiel und die Stimmung genießen, mit Freunden zusammensitzen (oder stehen) und ein kühles Getränk und eine Bratwurst auf die Hand. Also in Kürze: Alles das, was man im Stadion genießt, wenn man eine Partie der DFB-Auswahl oder aber des Vereins seiner Wahl verfolgt.

Also kommt mir nicht mit Argumenten wie das Gedränge oder die vielen unsachlichen Aussprüche, die man so zwangsläufig mitkriegt in den 90 Minuten, seien nervig oder aber man könne so schlecht sehen, weil die Sonne ungünstig auf die Leinwand scheint oder der begeisterte Anhänger in der ersten Reihe dauernd mit seiner Fahne wedelt.

Um 20 Uhr kam die Durchsage: "Der Friedensplatz ist voll." Wer später kam, musste in die Westfalenhalle. Foto: Jannik Sorgatz

Um 20 Uhr kam die Durchsage: "Der Friedensplatz ist voll." Wer später kam, musste in die Westfalenhalle. Foto: Jannik Sorgatz

Denn seit wann nerven euch das Gedränge und die dummen Sprüche in der Fankurve eures Lieblingsvereins? Und seit wann geht ihr nicht ins Stadion, nur weil ihr nur noch einen der schlechteren Plätze direkt unterm Dach ergattern konntet? Und seit wann kriegt ihr keine Gänsehaut mehr, wenn Zehntausende in den Arenen dieser Welt, bei einem Treffer ihres Clubs, Fahnen und Schals, und was sonst noch in Reichweite ist, freudestrahlend durch die Luft schwenken.

Die Super-Zeitlupe, die klären soll, ob der Ball nun wirklich hinter der Linie oder das Foul tatsächlich elfmeterwürdig war, könnt ihr euch auf YouTube noch oft genug ansehen und den Kommentar von Belá Rethy, Tom Bartels und Co. zu verpassen, ist in den meisten Fällen auch kein Beinbruch.

Und, ganz ehrlich, wenn ich mich beim Public Viewing freuen kann, dann könnt ihr das auch! Denn mit meinen 1,64 Meter sehe ich selten mehr als die oberen zwei Drittel des Bildschirms, werde dauernd rumgeschubst und habe hinterher garantiert Wadenkrämpfe vom ständigen Auf-den-Zehenspitzen-stehen. Auch vom Rahmenprogramm bin ich nicht unbedingt immer begeistert, wenn zum Beispiel talentfreie, leicht bekleidete Damen zu Shakiras „Waka Waka“ über die Bühne hüpfen oder diverse Betrunkene aus dem Publikum das „Humba“ anstimmen dürfen.

Aber das ist doch alles egal! Worauf es wirklich ankommt, ist die Stimmung. Euren Ärger, eure Freude, eure Nervosität, eure Trauer mit so vielen anderen zu teilen, die genauso empfinden wie ihr, das macht den Fußball doch zu einem Erlebnis.
Und so etwas erleben könnt ihr diesen Sommer eben nur in Polokwane, Port Elizabeth oder Bloemfontein – oder aber auf einem der vielen Fanfeste überall in Deutschland. Also stellt euch nicht an, geht raus und feiert mit!

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