„Umzug auf dem Papier“ – Wie deutsche Schuldner ihre Gläubiger linken

Briefkästen

 

„Ich bin der Postbote in England“, sagt Dieter Schenk*. Doch mit vollbepackten Trägertaschen am Fahrrad und frühem Aufstehen hat er wenig zu tun. Schenks Aufgabe ist eine andere: Er hilft Menschen aus den Schulden.

Über seine Homepage bietet er Schuldnern die Möglichkeit, das deutsche Insolvenzverfahren zu umgehen. Die Lösung: Eine Meldeadresse in England. Sein Service: Er kümmert sich um die Formalitäten und leitet die Post der Gläubiger an seine Kunden weiter. Dafür reist er jede Woche ins Vereinte Königreich, leert die gemieteten Briefkästen und leitet den Inhalt an seine Kundschaft weiter – wie ein ganz normaler Postbote eben.

Der Einzelkämpfer

Schenks Botschaft ist klar: „Ich möchte den Menschen helfen, weil ich weiß, wie sich so eine Situation anfühlt.“ Zwar verrät er nicht, wie viele Kunden seine Dienstleistung in Anspruch nehmen, doch über ihre Gründe scheint er Bescheid zu wissen. „Erst letzte Woche hatte ich einen Maler am Telefon, der 40.000€ Schulden hatte. Allerdings war er aber auch für sechs Monate krank geschrieben. Nach dieser Zeit hätte er den Betrag natürlich abbezahlen können. Trotzdem haben ihm seine Gläubiger Druck gemacht.“ Schenk wirkt entschlossen, wenn er von seiner Arbeit redet.

Die gescheiterte Selbstständigkeit oder der Verlust des Jobs – es gibt viele Gründe, die Menschen in die Schuldenspirale treiben. Sind die laufenden Kosten nicht mehr zu decken, beginnt meist eine Zeit der Panik. Schenk weiß das: „Die Schuldner werden hier extrem unter Druck gesetzt.“ Er redet von dem deutschen Insolvenzverfahren, dem Schufa-Eintrag und möglichen Besuchen des Gerichtsvollziehers.

Auch er sei in so einer Situation gewesen und fand einen Ausweg durch den „Umzug auf dem Papier“. Nun bietet er diesen Service selber an, er hat sich selbstständig gemacht – nebenberuflich, wie er selber sagt: „Ich sehe mich als Einzelkämpfer für diese Leute“. Schenks Leistungen als Postbote: Das Einsteiger-Paket über einen Monat für 99 Euro, bis hin zum Jahres-Abo für 820 Euro. Immer mit dabei: Eine englische Sim Karte für den Klienten mit der passende Rufnummer – er denkt eben an alles.

Schenks 6-Punkte-Plan
1. Beim Einwohnermeldeamt abmelden.

2. Alle Gläubiger über den Umzug informieren.

3. Alle Zahlungen an die Gläubiger einstellen.

4. Prüfen, dass alle Gläubiger Post nach England gesendet haben.

5. Schuldenvergleich per Post aushandeln.

6. Wenn Einigung mit allen vorhanden ist, die Geld wollen: zahlen. Vergleich ist auch auf Raten möglich.

Zu schön um wahr zu sein

Doch wieso gerade England? So paradox es klingen mag: Es sind die Gesetze, die Schenk in die Karten spielen. So gilt seit 2000 von der EU verordnet, dass alle EU–Bürger dort Privatinsolvenz anmelden dürfen, wo sie leben. Die Voraussetzung: Sie müssen mindestens ein halbes Jahr am Wohnsitz angemeldet sein. Die Krönung: In England gibt es keine Meldepflicht. Keine Behörde, bei der man sich anmelden muss und somit auch keine Kontrolle, ob die Melde- auch die Wohnadresse ist. Für die Erreichbarkeit sorgt der persönliche „Postbote“ Schenk.

Eine rechtliche Grauzone, über die gestritten werden darf. „Betrug ist relativ“, findet Schenk eine ausweichende, aber vielleicht gerade deshalb so treffende Antwort. So beteuert er auf seiner Homepage zwar immer wieder die Legalität dieses Vorgangs, doch im Gespräch mit pflichtlektüre gibt er zu, dass es schon zu Strafen gekommen ist, die allerdings wirkungslos erscheinen: „Bei Schulden von 100.000 Euro ist das Bußgeld von 500 – 1000 Euro das geringste Problem.“

Unstrittig hingegen ist die neue Situation für die Gläubiger, für die es nun weitaus komplizierter wird, an ihr Geld zu gelangen. Denn durch den „Umzug auf dem Papier“ entfallen vorerst allen Zwangsvollstreckungsmaßnahmen die Rechtsbasis. Lohn- oder Sachpfändungen sind ab diesem Zeitpunkt nicht mehr gestattet.

Dadurch sparen sich seine Kunden bis zu 95 Prozent an Schulden, verspricht Schenk auf seiner Homepage. Hinzu kommt das massiv beschleunigte Verfahren in England. Die Privatinsolvenz dauert dort lediglich zwölf Monate – in Deutschland bis zu fünf Jahre. Kein Schufa-Eintrag, kein Druck der Behörden und kein Gerichtsvollzieher – zu schön, um wahr zu sein?

Solche tollen Angebote bekomme Sie nur, weil Sie in ,England wohnen´, und der Gläubiger kein Zugriff auf Ihr Vermögen hat.

Selbstverständlich kann man seine Wohnung behalten, denn es ist schließlich ,notwendig´, bei gelegentlichen „Besuchen“ in der Heimat eine Anlaufstelle zu haben.

Der unerwähnte Haken

Bergner

Dr. Daniel Bergner, Geschäftsführer VID

Sätze wie diese klingen für Daniel Bergner, Geschäftsführer Verband Insolvenzverwalter Deutschlands, schon eher nach Betrug. Trotzdem weiß auch er, dass eine Meldeadresse in England grundsätzlich legal ist. Doch scheinbar sind auch die englischen Behörden auf dieses Verfahren aufmerksam geworden. „Aufgrund des ungewissen Zuzugs sind die englischen Gerichte kritischer geworden“, sagt Bergner und weißt auf Fälle hin, in denen beispielsweise die Stromrechnung als Nachweis des echten Wohnsitzes gefordert wurden.

„Wenn bis zu zehn deutsche Schuldner in einer Wohnung in England angemeldet sind, dann kann das hier in Deutschland zu Konsequenzen führen“, weiß Bergner und führt weiter aus: „Grundsätzlich werden Ummeldungen zwar anerkannt, doch können diese bei offensichtlich betrügerischen Angaben annulliert werden.“ Konkret bedeutet das „keine völlige Sicherheit“.

Der Bundesgerichtshof (BGH) bestätigte das in seinem jüngsten Urteil in solch einem Fall. Das Ergebnis: „Die deutschen Gerichte müssen eine englische Restschuldbefreiung nicht anerkennen, wenn aufgrund einer vorgetäuschten Verlagerung des Wohnsitzes nach England die deutschen Gläubiger überhaupt nicht oder erst zu spät vom englischen Verfahren Kenntnis erlangen“, erläutert Bergner.

Neben dem Bußgeld drohen dem Schuldner trotzdem Zwangsvollstreckungen und Pfändungen. Weiterhin sei es unerheblich, zu welchem Zeitpunkt der Betrug festgestellt wird. „Die Restschuldbefreiung wäre in jedem Fall hinfällig.“ Das bedeutet, dass selbst nach dem englischen Insolvenzverfahren eine Annulierung beantragt werden kann. Der BGH weißt in seinem Urteil ausdrücklich darauf hin.

Hinweise, die auf Schenks Homepage nicht zu finden sind. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass seit der letzten Reform im Jahr 2014 auch Privatpersonen in Deutschland per Insolvenzplan innerhalb eines Jahres die Restschuldbefreiung erreichen können.

Die wichtigsten Fakten zum Insolvenzplan
1. Er ist kompliziert, aufwändig und bedarf deshalb in den meisten Fällen eines Spezialisten.

2. Der Schuldner muss den Gläubigern einen höheren Geldbetrag bieten, als sie durch Pfändung und Verwertung der Insolvenzmasse erhalten würden. In der Wirtschaft lag diese Befriedigungsquote bei rund fünf Prozent der Gesamtschulden.

3. Die Gläubiger müssen über den Insolvenzplan abstimmen. Ist eine einfache Mehrheit zugunsten des Plans erreicht, gilt dieser verbindlich für alle Parteien.

Genau an diesem dritten Punkt müssen die Schuldner eine Entscheidung treffen. Sie müssen entscheiden, ob sie das Risiko dieser rechtlichen Grauzone eingehen, oder sich mit ihren Gläubigern an einen Tisch setzen. Ist dieses Tischtuch allerdings schon zerrissen, wird der „englische Postbote“ seine Briefe weiter austeilen.

 

* Name der Redaktion geändert

Teaser- & Beitragsbild I: flickr.com / valentin.d

Beitragsbild II: vid.de

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert